Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Wildwechsel: Dinoflagellaten (Leuchtplankton)

Das Ende der Welt liegt zwei Stunden hinter Bordeaux. Man nähert sich ihm mit einem Regionalzug, dessen Sitze so ausgebleicht und verstaubt sind, dass sie unmissverständlich «Peripherie» kommunizieren. Vom Bahnhof Lesparre dauert es noch eine halbe Stunde mit dem Ruftaxi. Ich habe keine Ahnung, wie ich hier wieder wegkomme.

Im Moment interessiert es mich auch nicht. Die Rückreise in einer Woche ist ein verschwommenes «Dort».

Das «Hier» ist ein Campingplatz am Atlantik. Doch Anfang September ist dieser Ort, dem die trockenduftenden Pinienwälder seinen Namen geben, praktisch menschenleer. Einzig zwei Surfcamps sind eine letzte Woche vor. Meins hat seine Zelte in einem Kreis aufgeschlagen; die weissen Stoffdreiecke schweben leicht erhöht über dem Sand.

Verschwunden von der Landkarte

Am Strand selbst versinken besprayte Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg schräg im breiten Goldbraun. Die Dünen, auf denen das Strandgras verdorrt, laufen ins endlose Blau des Horizonts. Es fühlt sich wirklich an, als ob hier Dinge enden, obwohl ich das für eine sehr menschliche Wahrnehmung halte. Wann endet schon etwas auf einem kreisrunden Planeten?

Trotzdem mag ich das Gefühl, am Ende von etwas, ganz weit weg zu sein.

Auf der Landkarte grosser und relevanter Orte taucht diese Peripherie nicht auf. Das Geschehen der Welt interessiert sich nicht für diesen verschlafenen, goldblauen Fleck.

Alles, was einen bedrückt oder Ansprüche an einen erhebt, egal ob Gesellschaft, Mitmenschen oder ich an mich selbst, scheint hier nicht hinzukommen, weniger über mich verfügen zu können. Pandemie? Arbeit? Klimawandel? Femizide? Krieg? Liebeskummer? Mein Smartphone? Gibt es das wirklich? Es ist, als könnte ich aus der Zeit schlüpfen.

Einzig die stille Hitze des Spätsommers legt sich über mich. Die Tage verschwimmen ineinander, Sonnenaufgänge lösen sich in Sonnenuntergänge und Sternenhimmel auf, bis jemand «Leuchtplankton!» ruft.

Wie durch Sterne laufen

Dass ich Meeresleuchten einmal erleben würde, damit hätte ich nicht gerechnet. Ich kenne nur die Videos von blaufluoreszierenden Wellen aus Puerto Rico. Jetzt ist es trotzdem da: Dort, wo wir unsere Füsse hinsetzen, das Wasser bewegen, leuchten feine Punkte auf, flirren umher.

Ausgelöst wird das Leuchten durch sogenannte Dinoflagellaten.

So heisst eine Form von pflanzlichem Plankton, die zu den Algen gezählt wird und mehrheitlich in Salzwasser anzutreffen ist. Ein solches Dinoflagellat ist noctiluca scintillans. Wegen seiner Fähigkeit zur Biolumineszenz wird es auch als «Meeresleuchttierchen» bezeichnet. Das Leuchten entsteht als Reaktion auf Bewegungen, seien es Wellen, Fische oder menschliche Schritte. Es soll Feinde abschrecken. Noctiluca scintillans ist aber nicht das einzige Lebewesen mit dieser Eigenschaft.

Ich starre auf die warmleuchtenden Punkte um meine Füsse und kann nicht fassen, dass das gerade geschieht. Es fühlt sich an, als würde man durch Sterne laufen, die man beim Gehen erschafft. Wie kommt es, dass ich Plankton erst jetzt bewusst wahrnehme?

Unsichtbare Lebenserhaltungswesen

Sicher, in manchen Meeresdokus hat Plankton einen kurzen Auftritt. Doch Plankton ist nicht so süss oder lustig wie eine Robbe oder so beeindruckend clever und sensibel wie ein Oktopus. Es hat keinen direkten Nutzen für Menschen – ausser eben, es leuchtet spektakulär.

Plankton, aus dem Griechischen für «das Umherirrende», bezeichnet Mikroorganismen, die in 10’000 bis 20’000 Variationen existieren. Wissenschaftlich wird zwischen pflanzlichem (Phytoplankton) und tierischem Plankton (Zooplankton) unterschieden. Es gibt Algen-, Krebs-, Virus-, Bakterium- oder Pilz-Plankton. Manche Quallenarten gelten als sogenanntes Megaplankton.

Die meisten sind jedoch kleiner als der Durchmesser eines menschlichen Haares.

Und doch bildet Plankton mit seiner Winzigkeit die Existenzgrundlage für ganze Nahrungsketten, ja das Ökosystem Ozean basiert auf diesen Mikroorganismen. Unzählige Tiere, für deren «Spotting» wir Menschen um die halbe Welt reisen, leben direkt von Plankton: vom Flamingo über den Walhai bis hin zum Blauwal.

Plankton erhält planetare und dementsprechend menschliche Lebensgrundlagen. Trotzdem interessieren wir uns kaum dafür. Halten es für selbstverständlich. Denn Plankton bleibt trotzdem einfach da. Menschliche Gleichgültigkeit ändert nichts daran.

Niemand will Plankton sein

Ich fühle mich ertappt. Besonders als Frau sollte ich wissen, auf wie vielen Schultern unsichtbarer Care-Arbeit meine Bubble steht. Wie selbstverständlich streben wir alle dorthin, wo das Leben vermeintlich bedeutsam ist, oder ganz sicher bedeutender als das Leben vieler «anderer».

Niemand will diese «anderen» sein, die zwar systemrelevante, aber unter- oder unbezahlte Arbeit leisten, von der sie nicht leben können. Niemand will Plankton sein: überlebenswichtig, aber vernachlässigt. Unsichtbar auf der Landkarte der relevanten Dinge.

Natürlich will ich dieses System transformieren, weil es ungerecht ist.

Das ist der Teil, der sich sexy verkaufen lässt: Nieder mit der Plankton-Gleichgültigkeit! Wertet das Plankton auf, zeigt dessen Systemrelevanz! Werden wir doch alle ein bisschen mehr wie Plankton: bescheiden, tüchtig, leistungsfähig und damit wahrhaft leuchtend!

Doch ich halte diese Haltung für absurd: Plankton zu glorifizieren, weil diese wortwörtlich Umherirrenden zusätzlich zur ganzen Erhaltungsarbeit auch noch leuchten?

Indem wir es überhöhen, wie wundervoll und inspirierend es in seiner Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit ist, würde dieser Vergleich die übermenschliche Leistung normalisieren, die das Überleben prekärster Situationen erfordert. Kein Lebewesen sollte dafür verzweckt werden.

Die Absurdität des Lebens stehen lassen

Viel eher ist alles an dieser Begegnung mit Dinoflagellaten absurd. Wie so furchtbar viel anderes auch. Manchmal absurd schön und noch viel öfter absurd unverständlich und absurd ungerecht.

Wenn ich ehrlich bin, schämt sich ein viel grösserer Teil von mir. Weil Plankton mir vor Augen führt, wie privilegiert ich bin, dass ich mich für Momente aus der Zeit stehlen kann. Dass ich von der Landkarte verschwinden, Verzweiflung fühlen, Erschöpfung Raum geben und Meeresleuchten erleben darf. Während andere, die solche Pausen ebenso nötig hätten, weiter funktionieren müssen.

Denn mit unserem Lebensstil beuten wir Menschen nicht nur andere Menschen, sondern auch ganze Ökosysteme, darunter Ozeane aus.

Ich fühle mich, als hätte ich kein Recht zum Verzweifeln. Doch ein hilfreiches Gefühl ist das nicht. Hilft es, wenn wir Verzweiflung messen und bewerten? Wie würden wir das tun? Wie liessen sich planetarisches, tierisches, menschliches Leid angemessen kategorisieren? Wo würden wir anfangen, es zu beenden?

Ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Die Dinoflagellaten und noctiluca scintillans erst recht nicht. Aber vielleicht finde ich durch sie neue Fragen. Wie etwa: Welche Ressourcen habe ich jetzt, die eine bessere und gerechtere Welt ermöglichen? Und: Wo um Himmels Willen setze ich sie schnellst- und bestmöglich ein, wenn ich vom Ende der Welt zurückkomme?

Inspiration zu diesem Beitrag kam u. a. von folgenden zwei Büchern:
«Und alle so still» von Mareike Fallwickl
«Schreibers Naturarium» von Jasmin Schreiber.

Zum RefLab-Dossier Klima/Schöpfung.

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Foto: Ahmet Nishaath, Unsplash

Alle Beiträge zu «Wildwechsel»

1 Gedanke zu „Wildwechsel: Dinoflagellaten (Leuchtplankton)“

  1. Vielen Dank für diesen Beitrag, der mich in Badehosen an den Strand versetzt hat. Es ist eine wichtige Einsicht, dass wir uns selbst als Wachsende, Erwachsene, Ausgewachsene Zeiten der vermeintlichen Bedeutungs- sowie Sinnlosigkeit hingeben: Um in solchen längeren Momenten dem Herrn und Gott Jesus Christus nahe, näher zu sein, seine Stimme zu hören, uns von ihm berühren zu lassen. Auch wenn es nur beim Versuch bleiben sollte.

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