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Wildwechsel: das kopflose Huhn

Ich war ungefähr 6 Jahre alt, als das kopflose Huhn unserer Grosseltern über den Maschendrahtzaun geflattert ist und ich kreischend weggerannt bin.

Ich wollte im Gehege bei der Tötung des Tieres nicht dabei sein, wurde aber trotzdem vom fliegenden Vogelzombie auf meiner Seite des Zauns heimgesucht.

Zum Glück musste das Tier nicht lange leiden, wahrscheinlich sind nur Sekunden vergangen, bis es reglos am Boden lag. Dieses Erlebnis hat mich auf alle Fälle geprägt. Ich hatte gemischte Gefühle: ich war verängstigt aber auch fasziniert davon, wie gross die Überlebenskraft des Vogels war, das verständlicherweise orientierungslos herumgeirrt ist.

Ich kann wahrscheinlich seitdem das Geflatter von Tauben nicht ausstehen. Ich weiss noch, dass das Huhn weisses Gefieder hatte und ziemlich gross war, wobei im Kindesalter den Grössenrelationen nicht ganz zu trauen ist. Auf dem Rückweg hing es leblos in Grossmutters linker Hand, während die rechte das Beil trug.

Gegessen, wird trotzdem

Als meine Grossmutter dann das tote Huhn in heissem Wasser gebadet und ihm die Federn gezogen hat, wollte ich nicht mithelfen. Da habe ich zwar von der Ferne zugeschaut, war aber eher angeekelt als interessiert. Gestunken hat es auch fürchterlich.

Ob ich anschliessend vom Huhn gegessen habe, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich glaube aber schon. Grossmutter hat Hühner zumeist im Ofen mit Bratkartoffeln zubereitet. Mein Lieblingsstück war jeweils die Brust, die Füsse (igitt) habe ich nie gegessen.

Die Nutztiere (ein bestialisches Wort) hatten es bei meinen Grosseltern gut. Natürlich nur bis zum Tod. Ich habe Grossvater und Grossmutter am Abend immer begleitet, als man die Tiere jeweils gefüttert und dann auch in Sicherheit von Raubtieren in einem Häuschen aus Wellblech eingesperrt hat.

Empathierisch

Ich wusste woher das Fleisch kam, die Tiere taten mir auch leid. Es war aber für mich 30 Jahre lang kein Grund, auf Tierfleisch zu verzichten. Wieso?

Natürlich kann ich hier Gründe nennen und nachträglich rationalisieren, wie die gastronomische Tradition meiner Verwandten und den Genuss.

Mir fehlte die ausgeprägte Empathie dem Tier gegenüber und ich kannte die Alternativen (noch) nicht.

Unsere Tochter ist da entschieden konsequenter. Als sie realisiert hat, woher die Bolognese-Sauce kommt, hat sie sich vom Fleisch verabschiedet. Sie ist aber in einem anderen Kontext aufgewachsen: Ihre Eltern sind Vegetarier und gehen mit einem anderen Beispiel voran. Sie hat mir gesagt:

«Wie kann ich sie gerne haben und gleichzeitig essen?»

Wie könnte ich ihr widersprechen? Sie hat mehr Empathie für Tiere, ist empathierischer.

Perspektivwechsel

Stellen wir uns mal vor, wie eine weiter entwickelte Spezies die Welt im Nu erobert und dann unsere Kinder entführt, diese nach Lust und Laune tötet und verspeist, die Milch der trauernden Mütter dann in Flaschen abfüllt, mit unterschiedlichen Zusatz-Aromen anreichert und zu horrenden Preisen im Heimatplaneten als Bio-Menschenmilch verkauft. Unmenschlich, oder nicht? Es gibt da auch ein süffiges Video bei SRF zum Thema «Menschenfleisch».

Das fänden wir trotz Unterlegenheit dann wahrscheinlich nicht ganz OK. Das wäre unfair. Und ich frage mich jetzt, wie gross meine Überlebenskraft wäre und wie weit ich kopflos laufen könnte.

 

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Foto von Nik auf Unsplash

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