Weiche Kissen, die Fernbedienung in Griffweite und dann mit Werwölfinnen und anderen Monstern einen feinen Abend verbringen. Ach schön! So ist es in dieser Weihnachtszeit wohl vielen mit der Netflix-Serie «Wednesday» gegangen. Nicht zuletzt Reminiszenzen an vertraute Zauberwelten wie die von «Harry Potter» liessen beim Seriengenuss ein wohliges Gefühl aufkommen. Parallelen reichen von der Zweiteilung der Welt besonderer Wesen (Hexen, Freaks etc.) und schnöder Alltagseinwohner («Muggels» bei Harry Potter, «Normies» bei «Wednesday») bis hin zur Zeichnung einzelner Figuren, etwa einer sanften Brillenschlange als Lehrerin.
Streaming-Rekordbrecher «Wednesday»
Zwar scheint die Identifikation ausgerechnet mit der Protagonistin, dem ins Teenageralter gekommenen Mädchen Wednesdey aus der altbekannten Addams Family, abstrakt betrachtet, eine Herausforderung zu sein.
Kann man sich mit einer empathieblockierten, stets in schwarzen Trauerflor gehüllten, kreidebleichen Protagonistin identifizieren?
Man kann! Davon zeugen nicht zuletzt gigantische Streamingerfolge. Seit der Veröffentlichung haben mehr als 200 Millionen Haushalte Tim Burtons Horror-Komödie «Wednesday» konsumiert. Das passenderweise in Rumänien, also im Dracula-Land gedrehte Mystery-Märchen ist derzeit auf Platz 1 der Netflix-Charts – und die soeben angeküdigte neue Staffel wird bereits sehnsüchtig erwartet.
Schauplatz ist die Nevermore-Academy, ein Internat für Kinder aus Freak- und Monsterfamilien. Wednesday ist Neuankömmling und lebt mit (durchwegs hervorragend gecasteten) Outcasts. Sie wird verkörpert von der 2002 geborenen Kalifornierin Jenna Ortega. Die grossartige Darstellerin lässt das fast vereistes Gesicht des Horrorkindes manchmal kurz von innen heraus lächeln oder verrät durch leichtes Zucken der Mundwinkel so etwas wie einen Hauch von Gefühl.
Kaltes Mädchen und Händchen
Vorläufer der Verfilmung sind die berühmte TV-Serie «Addams Family» aus den 1960ern oder der Spielfilm von 1991. Das Publikum jedoch lachte und erschauerte bereits in den 1930er-Jahren, als der Addams’ Cartoon im Magazin «The New Yorker» makabre Unterhaltung bot. Die kleine Addams-Tochter Wednesday aus der verrotteten viktorianischen Familienvilla begegnet nun also als verhaltensauffälliger Teenager.
Unter den Outcasts in Nevermore ist Wednesday wiederum der Outcast: die radikale und tatsächlich selbst unter Outcasts unintegrierbare Aussenseiterin. Sogar das eiskalte Händchen – es ist ebenfalls aus früheren Adaptionen des Stoffes bekannt – zeigt mehr Gefühl als sie.
Dabei ist ein Widerspruch unübersehbar: Einerseits wird das «Andere» der Wednesday, ihre Unabhängigkeit vom Urteil der anderen, ihre (scheinbare) Kälte, bewundert. Andererseits werden gerade Momente des Aufbrechens dieser kühlen Fassade, also ihre Normalisierung, als besondere Ereignisse inszeniert. Besonders deutlich in der Umarmung der ungleichen Zimmergenossinnen, die auch als zwei Facetten einer komplexen Persönlichkeit angesehen werden können: der gefühlsarmen Wednesday und der überschwänglichen, bunten Werwolf-Nudel Enid.
Man bewundert, mit anderen Worten, die Andersartigkeit von Wednesday gegenüber langweiligen Normalos und freut sich doch über alle Spuren emotionaler Normalisierung.
Versuchung durch den Teufel
Über das Thema Hexen & Co. handelt die Serie Gegenwartsfragen des Umgangs mit Abnormies oder Heteronormies und generell mit kulturell von Mehrheitsgesellschaften abweichenden Minoritäten ab. «Nevermore», der Name des Internats, kann als Ausdruck trotziger Entschlossenheit verstanden werden: Nie mehr Opfer sein. Oder auch: Nie mehr Intoleranz. Einige Outcasts, so wird angedeutet, sind indigener Herkunft (schon bei «Twighlight» waren Werwölfe bei Tageslicht besehen indigene Jugendliche aus «Reservaten»).
Christentumkritische Umrisse der Serie werden erkennbar, wenn man das kontrastierende Gegenüber des Outcast-Internats in «Wednesday» betrachtet: die Ortschaft Jericho. Auf deren Gebiet befindet sich die Freak-Akademie. Laut dem Plot ist das Städtchen Jericho im US-Bundesstaat Massachusetts im frühen 17. Jahrhundert von Pilgrim-Siedlern gegründet worden. Name und Datum lassen aufhorchen.
Das antike Jericho war der Ort, in dessen Nähe laut Bibel Jesus vom Teufel in Versuchung geführt wurde und widerstand. Die Oasenstadt ist zudem biblischer Kriegsschauplatz. in «Wednesday» ist es das auf einer Anhöhe befindliche Internat Nevermore, das unweit von Jericho liegt.
Im Jericho der Serie gibt es einen Themenpark für Touristen, die «Pilgrim World». Man könnte von einem historischen Pendant zu «Jurassic Park» reden: In beiden Fällen wird aus Unterhaltung gefählicher Ernst («Visit Pilgrim World where history comes to life»). Die resolut anti-koloniale Wednesday beklagt bezogen auf die «Pilgrim World» «Whitewashing der Geschichte» und erklärt einer als Puritaner verkleideten Gruppe von Teenagern:
«It takes a special kind of stupid to dedicate an amusement park to zealots who have committed genocide.»
«Es gehört eine besondere Dummheit dazu, einen Vergnügungspark Eiferern zu widmen, die Völkermord begangen haben.»
Symbolhaft ist die Aufstellung der Statue eines als religiöser Fanatiker und Fundamentalist gezeichneten Pilgervaters inmitten des Städtchens Jericho: dirkt vor der Kirche. Die rebellische Wednesday legt noch am Tag der Errichtung des Denkmals in einem Akt von Cancel Culture eine Lunte und das eiskalte Händchen zündet sie an. Dazu spielt Wednesday mit dem Cello düstere Musik von Vivaldi. Der weisse christliche Bronzemann und Gründer von Jericho, Joseph Crackstone, schmilzt auf hohem Sockel und nimmt dadurch ein noch monströseres Aussehen an, bleibt aber weiter stehen.
Begabt mit Hellsichtigkeit hatte Wednesday gesehen, dass ihre Vorfahren vor mehreren Jahrhunderten auf seinen Befehl als Aussenseiter und Hexen verbrannt worden waren. Das Visionen ankündigende zackige und sicherlich nicht nackenschonende Kopfzurückwerfen geht als tänzerische Geste in sozialen Medien viral (hier die Tanzszene aus «Wednesday»).
Dass in der Serie fromme christliche Pilgrims die Bösen sind, die die Outcasts blutig verfolgen, ist nicht frei von Ironie: Die Pilgrims waren in Europa selbst die Verfolgten, also in diesem Sinne Outcasts. (Pilger, lateinisch peregrinus, ist übrigens derjeige, der «in der Fremde ist» – also ein Outcast.)
Heteronormies und Abnormies
Ebenso vielsagend ist das angegebene Gründungsjahr von Jericho durch Pilgerväter: 1625, nur fünf Jahre nach der historischen Ankunft der ersten Pilgrims. Historisch fällt die Ankunft der ersten Pilgerväter und die erste Einfuhr versklavter Menschen aus Afrika für die Plantagenarbeit nahezu zusammen. Der glorifizierte Anfang der Pilgrims und der Beginn einer US-amerikanischen Schuldgeschichte fallen hier zusammen, ja werden gewissermassen verbunden. In der aktuellen Adaption bekommt die schaurig-bizarre Addams-Family-Story eine woke, postkoloniale, politische Note.
Was wir sehen, ist ein Genrebild aus den gegenwärtigen USA und eine Allegorie: die Umkehrung des einst identitätsstiftenden nationalen Narrativs christlicher Besiedlung (Pilgrim Fathers). An dessen Stelle tritt eine postkoloniale und «diversitäre» Sichtweise auf die amerikanische Vergangenheit: der Blick auf Verbrechen gegenüber ethnisch und kulturell Anderen.
Die Umwertung der Pilgrims ist dabei besonders bemerkenswert. Die «Pilgerväter» (der Name kam erst Mitte des 19. Jahrhunderts auf) waren Calvinisten, also Reformierte. Der Riesenerfolg von «Wednesday» kann damit auch als Ausdruck einer weitgehend abgeschlossenen radikalen Um- und Abwertung der calvinistischen Wurzeln der USA verstanden werden: Sie sind die wahren Monster.
Integration der Schatten
(Christliche) Normies verfolgen, mit anderen Worten, wenig christlich und dafür sehr intorelant-fanatisch alle, die anders sind als sie. Hinter dem satanistischen Styling und dem morbiden Humor der Outcasts verbergen sich dagegen Wertvorstellungen, die durchaus christlichen Tugenden nahekommen: Liebe, Solidarität, Verbundenheit, ja sogar die Bereitschaft zur Selbstaufopferung.
So wie sich hinter der christlichen Fassade der puritanischen Pilgrims «satanische» Monster verbergen, verstecken sich, so scheint es, hinter der Fassade der Monster wahre Christ:innen.
Werden damit also einfach Gut und Böse invertiert, so dass nun die Pilgrims genau an die Stelle der Aussenseiter geraten und die Aussenseiter an die Stelle der wahren Christen? Nicht ganz: So sehr auch christliche Werte letztlich bei den Outcasts relevant bleiben, so sehr ist die konzeptuelle Grundstruktur auch psychoanalytisch geprägt: Böse ist, wer das Böse in sich verdrängt – und daher ins Außen projiziert und dort fanatisch bekämpft.
Die Monsterkinder aus dem Internat wissen um ihre Monstrosität und lernen einen sozialverträglichen Umgang mit ihr. Normies dagegen verdrängen (tendenziell) ihre Schatten, die dadurch unkontrollierbar und gerade deswegen gefährlich werden können.
Foto: Netflix
2 Gedanken zu „Wednesday und die Pilgrim Monsters“
Fantastische Rezension!
Vielen Dank!