Es ist kurz nach Silvester. Die blaurot-karierte Umzugstasche ist vollgestopft mit Kleidung. Nur wenige Leute sind Sonntagvormittags auf der Strasse. Ich bin froh darüber. Ich möchte mit meiner Stoffladung möglichst nicht gesehen werden.
Gerade noch haben sich die Sachen – T-Shirts, Leggins, Kleiderfehlkäufe – in meinem Schrank herumgedrückt. Nun ist es Altkleidung, Entsorgungsmasse.
Mit den gleichen Taschen, China-Bags, sind Flüchtlinge auf zahllosen Routen unterwegs: mit ihrem ganzen Hab’ und Gut.
Über das Loslassen
Um zum Altkleidercontainer [1] zu gelangen, muss ich mehrere Querstrassen passieren. Und dann noch ein ganzes Stück nach vorne gehen. Es ist die zweite von drei Ladungen, die ich transportiere.
Ich habe – wieder einmal – mehr Altkleider angesammelt als ich auf einmal schleppen kann. Das meiste davon ist nicht abgetragen. Es gefällt mir schlicht nicht mehr.
Jedes Teil war einmal eine kleine Glücksverheissung: beim Entdecken, Anprobieren, Kaufakt, Entfernen der Preisschilder. Und, wenn es gut ging, beim erstmaligen oder sogar noch zweimaligen Tragen.
Für Momente war es wie Wunderkerzen. Jetzt ist es nur noch ein unordentlicher Haufen in einem China-Bag.
Spuren des Lebens
Altkleider entsorgen ist wohl für viele Wohlstandsverwöhnte eine eher schambesetzte Angelegenheit. Gefühlt gehören die Kleider noch zu einem. In ihren Fasern hängt noch unser Geruch.
Die Sachen sind Zeugen von Ereignissen in unserem Leben geworden.
In gewisser Weise exponieren wir uns selbst, wenn wir sie weggeben und einem ungewissen Schicksal überlassen.
Gleichzeitig wollen wir das Zeug loswerden; weil es unsere Schränke verstopft und Zeuge von Überkonsum ist: der chronischen Unfähigkeit, ein vernünftiges Mass zu finden. Die Sachen sind Zeugen persönlicher Schwäche – und zugleich von gelungener Konsumkonditionierung:
Für den Konsum schlägt unser Herz, hier ist es glücklich!
Ist es nicht sogar eine Bürgerpflicht, zu konsumieren? Damit die Wachstumswirtschaft am Laufen gehalten wird?
Der Preis des Überkonsums
Während ich mit meinem Bündel unterwegs bin, bedrückt mich, dass ich wieder einmal den Wohlstandsmüll vermehrt habe. Dabei wollte ich das sicher nicht. Schon nach dem vorletzten und vorvorletzten Ausmisten gab es gute Vorsätze.
Ich habe entweder ferngesteuert gehandelt. Oder ich war von mir selbst entkoppelt.
Ich muss mir eingestehen, dass sich Lustkäufe wieder einmal nicht zu Wohlfühlwundern und anhaltendem Sich-gut-fühlen addiert haben.
Glaubt man dem Soziologen Hartmut Rosa, bildet den Kern des Konsums ohnedies nicht Lust, sondern Angst.
Jeder Kauf wird begleitet von der Angst, nicht genug zu haben. Das führt zu unnötigem Konsum und Umweltbelastung. Im Falle von Kleidung lässt sich wohl eine tief sitzende Angst annehmen, nicht über ausreichend Schutzhüllen zu verfügen.
Innere Leere
Überkonsum erscheint mir jetzt sogar als Ausdruck einer Form von Kleingläubigkeit und mangelndes Vertrauen in tiefe Formen des Glücks.
Im Kern ist es wohl eine Frage des Herzens. Woran hängt mein Herz? An etwas, das resonanzfähig ist und zurückliebt oder an Glücks-Surrogaten?
Man nennt sich Christin und gibt sich mit Glücks-Surrogaten zufrieden. 🙁
Als ich beim Altkleidercontainer ankomme, muss ich feststellen, dass auch andere den Jahreswechsel zum Ausmisten genutzt haben. Die Box ist übervoll. Es gelingt mir gerade noch, meine Sachen hineinzustopfen.
Auf dem Nachhauseweg fallen mir lauter Plastiktaschen mit Klamotten auf. Leute haben sich nicht die Zeit genommen, zur Abgabestelle zu gehen. Sie haben die Sachen einfach auf die Strasse gestellt.
Verwaiste Klamotten sind von Regen und Schneematsch durchnässt und zum Teil in den Rinnstein gerutscht.
Mut zur Lücke
Der Wegfall des Gewichts und die dadurch entstandene Leerstelle fühlen sich gut an. Ich stelle fest, dass ich die Lücke bereits von irgendwo kenne. Richtig: von Lustkäufen. Da taucht, in der Shopping Mall, kurz und drängend eine Lücke auf – und möchte gestopft werden. Spätestens beim Ausmisten wird deutlich:
Mit Dingen lassen sich innere Lücken nicht stopfen.
Auf einmal erscheint es mir lohnenswert und spannend, die innere Lücke bewusst wahrzunehmen – und auszuhalten.
In der seelischen Lücke sitzt, natürlich, meine Angst; die Angst, mir selbst zu begegnen, nackt.
Die Leerstelle, so scheint mir auf einmal, ist womöglich ein göttliches Geschenk. Oder zumindest eine Einladung, das Herz nicht an schöne Klamotten und Wunderkerzen zu hängen.
Ein neuer Ansatz
Ich geniesse meinen übersichtlich gewordenen Kleiderschrank und bemerke auch wieder dankbar, wie viele schöne Sachen ich habe.
Ich nehme mir für die kommende Zeit nicht totale Abstinenz vor. Abstinenz kann ins Gegenteil oder in neuerliche Nachlässigkeit umschlagen.
Auch in Zukunft dürfen gelegentlich neue Sachen dazukommen.
Von jetzt an aber möchte ich nur noch etwas Neues kaufen, wenn ich etwas Altes loslasse. So schaffe ich Platz für Dankbarkeit.
[1] Eine feine Alternative haben diejenigen, die in Zürich leben: das Schenkhaus. Dort kann man kleider mitbringen und verschenken sowie aus einer kostenlosen Kleiderauswahl wählen. Zugleich ist das Projekt der reformierten Kirche ein kulturell-spiritueller Begegnungsort. Schenkhaus, Dufourstrasse 29, 8008 Zürich.
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