Menschen sind aus verschiedenen Gründen skeptisch gegenüber «der Wahrheit». Sie trauen sie dem menschlichen Verstand nicht zu, weil sie zu hoch sei. Sie sprechen lieber von «Wahrheiten», wobei der Plural ein Ausdruck einer Selbstbescheidenheit darstellen soll, die sich von den kontextbedingten Perspektiven verschiedener Betrachter*innen beeindruckt gibt. «Es ist halt alles irgendwie relativ.» Und viele bezweifeln, dass «Wahrheit» etwas anderes sei, als ein schlecht getarnter Machtanspruch. Wer «Wahrheit» beansprucht, beansprucht Macht.
Gibt es Wahrheit?
Diese Einwände haben einen gewissen Reiz. Aber sie sind letztlich haltlos.
Wer uns Menschen «Wahrheit» nicht zutraut, verkennt, worin ihre Bedeutung liegt. Eine Aussage ist nicht erst dann wahr, wenn sie das Wesen einer Sache vollumfänglich trifft, sondern schon dann, wenn wir Menschen untereinander zum selben Ergebnis kommen können. Auch wenn uns die Sinne täuschen würden, wäre das kein Hindernis für «Wahrheit», solange sie uns auf dieselbe Art und Weise täuschen. Wir können uns dann immer noch über Dinge in der Welt verständigen, wie sie uns Menschen begegnen.
Wer «Wahrheit» nur im Plural zulässig findet, nimmt mindestens für diese Behauptung eine Vogelperspektive ein, die seinen oder ihren eigenen Partikularismus transzendiert. Wer weiss, dass alles «irgendwie relativ» ist, müsste auch diese Idee als kulturell gewachsene, historisch und biografisch relative Position begreifen. Nur eben: Dann verkommt alles zu einer blossen Meinung. Menschen äussern dann Geschmacksurteile und versuchen sich zivilisiert aus dem Weg zu gehen und sich bestenfalls mit Freunden des eigenen Geschmacks zu umgeben.
Machtansprüche und Deutungshoheiten von Behauptungen offen zu legen, ist eine gute Sache. Aber man sollte nicht das Bad mit dem Kind ausschütten: Denn «Wahrheit» ist nicht identisch, mit dem Wahrheitsanspruch. Und nichts bedroht einen falschen Wahrheitsanspruch so sehr, wie die Wahrheit selbst.
Wahrheit und Öffentlichkeit
Mit der «Wahrheit» ist es wie mit dem Regen: Dass sie fehlt, merken wir nicht sofort und erst wenn sie länger ausbleibt. Das Wasser wird knapp und die Anstrengungen gross, um Felder zu bewirtschaften. Das Zusammenleben wird brüchig und es ist schwierig, sozialen Kitt auf das mürbe Band einer Gesellschaft aufzutragen.
Während der Trockenheit, können wir Felder bewässern. Wenn der Boden aber zu trocken ist, wird er wasserabweisend. Das ist mit der Wahrheit und der Gesellschaft nicht anders: Wenn sie fehlt, driften die Menschen auseinander, es entstehen Risse. Und in diesen Rissen bilden sich Weltbilder und Verschwörungsmythen aus, die «wahrheitsundurchlässig» sind. Wahrheit prallt an ihnen ab.
Die Menschen, die unter diesen Mythen und Weltbildern leben, trauen der «Wahrheit» nicht mehr. Sie wird zum Machtmittel gieriger Eliten, zum Durchsetzungsmittel der bedrohlichen Mächte. In ihren Augen reagiert dann der Bundesrat nicht mehr oder weniger adäquat auf eine Pandemie, sondern nutzt diese, um die Wirtschaft zu verstaatlichen, die Unternehmen zu enteignen, den Sozialismus zum Sieg zu führen. Wahlergebnisse sind keine Tatsachen mehr, sondern das Ergebnis eines Machtkalküls, das aus Gewinnern Verlierer macht.
Wo es keine Fakten mehr gibt – beziehungsweise wo Fakten nur noch Interpretationen im Meinungsstreit sind –, fehlt ein gemeinsamer geistiger Ort, an dem man sich auseinandersetzen kann.
An die Stelle der Verständigung tritt eine Massendemokratie. Sie kann ihre eigene Stabilität nicht herstellen oder bewahren. Die Einheit des Gemeinwesens unterliegt den launenhaften Schwankungen einer willkürlichen, durch keine gemeinsame Idee korrigierbaren Willensbildung. Recht hat, wer die Mehrheit auf seiner Seite hat.
Wahrheiten
An unserem Verständnis von Wahrheit hängt viel: Unser Zusammenleben, wenn es mehr meint, als die Durchsetzung eigennütziger Ziele mit ständig wechselnden Mehrheiten. Deshalb ist es sinnvoll, sich gegenüber Wahrheiten skeptisch, abwägend und bedacht zu verhalten.
Dazu gehört v.a. verschiedene Wahrheitsansprüche voneinander zu trennen:
Es gibt (a) logische Wahrheiten. Wir kennen sie aus mathematischen Beweisen. Die Gültigkeit eines Beweises ist innerhalb eines bereits akzeptierten Aussage-Systems überprüfbar. Das betrifft mathematische Sätze oder logische Analysen von Satzstrukturen gleichermassen. Diese Wahrheiten werden kaum bestritten. Aber sie helfen uns für sich genommen wenig, wenn wir uns in der Welt orientieren wollen. Dass 20 SFr plus 30 SFr 50 SFr ergeben, erklärt noch nicht, was diese uns Wert sind.
Es gibt (b) empirische Wahrheiten. Sie sind häufig das Resultat von Experimenten und können durch Experimente widerlegt werden. Zu diesen Wahrheiten gehören auch die «Fakten». Es gibt keine «alternativen» Fakten. Entweder waren noch nie so viele Menschen an einer Inauguration wie bei Trump oder nicht. Und dass bei Joe Biden noch weniger Menschen anwesend waren, ist wahr. Und allein das zeigt, dass Fakten für sich genommen erst die halbe Miete sind. Man muss sie interpretieren, sie in einen Zusammenhang stellen, damit sie etwas erklären können.
Um diese Erklärungen kann man mit Gründen streiten. Man kann sagen: «Bei Biden waren es nur weniger Menschen, weil aufgrund der Covid-19-Situation keine Menschenansammlungen zugelassen waren.» Oder: «Der ganze Platz war voller Flaggen, da hatten die Menschen keinen Platz.» Und man kann bestreiten, dass dieser Grund gilt: «Selbst ohne Covid-19 hätte Biden nie die Begeisterung ausgelöst, die Trump zu Teil wurde.» Erklärungen sind besser oder schlechter, sie sind nicht wahr.
Es gibt (c) Beziehungswahrheiten. Und in Ehetherapien lernt man, dass diese tatsächlich im Plural auftreten. Hier meine ich aber nicht einfach Interpretationen von Fakten, sondern solche Interpretationen, an die ich mich hänge. Ich meine nicht nur, sondern halte es für wahr, dass ich meine Frau liebe. Würde dies bestritten, könnte ich diese Wahrheit aber nicht einfach mit einem Verweis auf Fakten verteidigen. Ich müsste Geschichten erzählen und in diesen Geschichten würde deutlich, dass es mir um eine Wahrheit geht, die mich so mit der Welt verbindet, dass ich ohne sie ein anderer wäre. Diese Wahrheit bezeugt man als Person, indem man sie selbst gewissermassen ist.
Das, was Wahrheiten verbindet
Das sind alles verschiedene Arten von Wahrheit. Sie werden weder durch ein gemeinsames Thema noch durch eine Methode verbunden. Sie sind aber grundsätzlich falsifizierbar. Der logische Beweis kann scheitern und die Hypothese kann falsch sein. Jemand kann die Publikumszählung der Regierungsadministration korrigieren. Und wie viele haben nach dem Schmerz einer Trennung erfahren, dass sie jetzt ganz anders «Ich» sagen wollen und ihre Geschichten revidiert? Dinge, die wir für wahr halten, können sich als Unwahrheiten herausstellen. Für unser (Zusammen-)Leben reicht es aber nicht, zwischen Wahrheiten und Unwahrheiten zu unterscheiden. Wir brauchen auch die Nicht-Wahrheiten.
Nicht-Wahrheiten
Nicht-Wahrheiten werden oft mit Meinungen und häufig mit Unwahrheiten verwechselt. Von Meinungen und Unwahrheiten unterscheiden sie sich aber grundsätzlich: Meinungen hat man oft da, wo man etwas nicht weiss. Entweder weil es einem nicht wichtig genug ist – «Ich denke, dass Australien dreimal so viele Einwohner*innen hat, wie New York.» – oder weil man (noch) nicht die relevanten Fakten kennt – «Das Internet ist nur eine kurzlebige Modeerscheinung.». Meinungen können wahr sein. Und sobald ich das zeigen kann, werden sie zu Wissen.
Unwahrheiten hingegen sind Meinungen, die sich als falsch erwiesen haben oder Behauptungen, die nie einen Anspruch auf Wahrheit hatten, sondern nur auf Geltung. Man kann etwas behaupten, um etwas zu bewirken und sich dabei keinen Deut um Wahrheit scheren.
Nicht-Wahrheiten dagegen beziehen sich auf Themen, die für Menschen wirklich wichtig sind, ihr Verhalten prägen, unser Weltbild bestimmen und darüber entscheiden, wie wir zusammenleben, ohne dass der Vorhang des Nicht-Wissen-Können je fallen wird. Nur was kein Mensch wissen kann, kann eine Nicht-Wahrheit sein und bleiben.
Eine für unsere Gesellschaft fundamentale Nicht-Wahrheit ist die unantastbare Würde des Menschen. Die Würde des Menschen stellt etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland den obersten Verfassungsgrundsatz dar und ist der Massstab für alles staatliche Handeln. Es kann keine Bundesrepublik Deutschland geben, ohne diesen Artikel. Fällt er weg, erlischt die Bundesrepublik. Es gibt nun viele Geschichten, die uns davon überzeugen können, dass dieser Artikel gut ist. Es gibt aber auch sehr viele Erfahrungen, die Menschen machen, in denen offensichtlich wird, dass Menschenwürde innerhalb einer Güterabwägung verhandelt wird. Moria, Frontex oder Alan Kurdi sind Symbole dafür.
Auf der individuellen Ebene und innerhalb von Religionsgemeinschaften sind Glaubenssätze solche Nicht-Wahrheiten. Kein Mensch weiss, ob Jesus kommen wird, um die Lebenden und die Toten (auf-) zu richten. Kein Mensch weiss, ob jemand oder etwas unsere Gebete hört. Wir wissen nicht, ob es ein Leben nach dem Tod, ob es Gott und einen Himmel gibt und ob sie barmherzig ist. Wir können Geschichten erzählen und unsere Gefühle miteinander teilen. Aber es gibt auch Menschen, die am Leben zerbrechen und zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit ohne Resonanz. Jesus selbst ist ein Symbol dafür.
Wahrheit & Nicht-Wahrheit
Für unser Leben und erst recht für unser Zusammenleben brauchen wir beides: Wahrheit, die unser gemeinsamer Boden ist, Fakten, die gelten, Überzeugungen, die uns tragen und denen wir anhängen. Und wir brauchen Nicht-Wahrheiten, die uns beflügeln, die Welt zu verändern, zu kritisieren, was hinter dem, was unser Nicht-Wissen uns verheisst, zurückbleibt. Damit wir über all dem im Gespräch bleiben können, müssen wir unterscheiden, zwischen Fakten und Fake-News, Glaube und Wissen, Hoffnungen und Meinungen.
HIER geht es zum Podcast, indem Manu und ich über Wahrheit diskutieren.
2 Gedanken zu „Wahrheiten nicht aufgeben!“
Es ist etwas verwirrend, die zuletzt erwähnten Wette als «Nicht-Wahrheiten» zu bezeichnen, denn sie werden ja subjektiv als Wahrheit empfunden («Ich bin der Weg, die Wahrheit…»). Die Kategorie der Beziehungs-Wahrheit würde mir da besser gefallen. Es ist eine Wahrheit, die sich auf Überzeugungen, Erfahrungen und Begegnungen stützt. Und wenn man es ganz wertneutral betrachtet, funktionieren Verschwörungstheorien ganz ähnlich… Wahrheit ist ein grosses, schillerndes Wort.
Lieber Samuel,
ursprünglich wollte ich religiöse Wahrheiten ebenfalls als Beziehungswahrheiten beschreiben. Aber es hat mir nicht mehr eingeleuchtet.
1. Religiöse Erfahrungen gehen nicht vorwiegend auf direkte Erfahrungen zurück. “Der Glaube kommt vom Hören.”
2. Die Würde des Menschen oder die Gottesbeziehung scheitern nicht an empirischen Fakten, sondern strukturieren unsere Wahrnehmung derselben. Sie stehen gewissermassen über der Wirklichkeit.
Kannst du meine Gründe nachvollziehen?
Lieber Gruss,
Stephan