Erinnerungen made in Muotathal
Wenn ich als Kind meine Grosseltern im Muotathal besuchte, ging es immer entweder steil bergauf oder bergab. Geradeaus führte nur die Muota, der Fluss, der dem Tal zwischen den schroffen Bergen seinen Namen gibt.
Ein Dialekt wie die Berge und Täler
Statt aufwärts und abwärts sagt man hier obsi und nidsi. Und so, wie es das Leben und die Natur vorgibt, sprechen auch die Muotathaler[1]:
Die Töne gleiten hoch auf den Wasserberg, dann flauen sie in die Höhlen des Höllochs ab.
Sie werden in die Länge gezogen, wie der lange, nicht enden wollende Winter oder sie vergehen so unvermittelt, wie der Alpsommer auf der Alp Bärhalten meines Cou-Cousins Sepp Gwerder.
Der markante, eigentümliche Dialekt kommt einem Singsang gleich, auch wenn das Leben im Muotathal nicht nur Singsang zu bieten hat.
Kindheitserinnerungen
Ich war gerne in der Nähe meines Grossvaters, Vatti, genannt.
Er war wie der uralte Bödmeren-Wald, mit den Füssen tief in den Boden verwachsen.
Wie eine friedliche, etwas verwitterte Bergföhre sass er für gewöhnlich am Küchentisch, trank sein Chachäli Milchkafi (seine Tasse Milchkaffee) und las Zeitung.
Dem Mueti, der Grossmutter, hingegen begegnete ich mit einer Art stillen Ehrfurcht. Sie war streng und ernst und immer geschäftig unterwegs, wir Grosskinder hinterher.
Regelmässig ging es dabei auch ins Kloster Muotathal, wo sie bei Allerlei aushalf. Ich glaube, sie wäre lieber Klosterfrau statt Bäuerin geworden.
Lieblingsworte
Vatti sprach nie viel, darum war mein Lieblingswort von ihm mein eigener Name – Sarah:
Betonung auf dem ersten Vokal Saa – hoch hinauf auf den Wasserbergfirst – beim rah ins tiefe, dunkle Hölloch hinab.
Meine Lieblingsworte vom Mueti waren eistär, das heisst immer und nämis, das heisst etwas. Es gibt immer etwas zu tun, keine Müdigkeit vorschützen.
Abwärts wurzeln
Ich schaute Vatti frühmorgens vom Toilettensitz aus beim Rasieren zu oder beobachtete ihn, wenn er die Bergflanken mit dem Feldstecher nach Gämsen absuchte.
Auf seinem Flächengesicht stand immer ein leichtes Lächeln und
seine baumgleiche Ruhe wirkte auf mich, als würde ich selbst zum Baum – nidsi – abwärts, in den Boden verwurzelnd.
Aufwärts wachsen
Beim Mueti hingegen musste in erster Linie mithalten, vor allem auf dem stotzigen Weg ins Dorf: Das Mueti tifig (schnell) voraus, ich hinterher gestirzelt. Getragen hat sie mich, soweit ich weiss, nie:
«Äs wüür am Chind nüd hälfä, würdi märs värgwännä» – es würde dem Kind nicht helfen, würde man es verwöhnen.
Sie formte mich obsi – aufwärts zu wachsen – Steiles überwindend, mit den kurzen Stummelbeinchen immer weiter, den Lebenshang hoch.
Ein Leben zwischen Stall- und Kirchgang
Zu wissen, woher sie kamen, half mir, Verständnis für meine Grosseltern zu haben: Sie hatten ein sehr einfaches, entbehrungsreiches Leben. Für sie gab es weder Freizeit noch Luxus. «Arbeite und bete» war der Familienspruch.
Ich hätte nicht mit meiner Mutter, meinen Tanten und dem Onkel tauschen wollen.
Zwischen Stall- und Kirchgang gab es kaum Platz für Kindheit.
Als Grosskind hatte ich es da um Welten besser. Als Grosskind gab es genug Zeit zum Wundern und Staunen und Innehalten.
Man nimmt es, wie es kommt
Im Thal schmilzt der Schnee langsamer als draussen. Während sich draussen die Zeiten ändern, bleiben sie hier hinten lange gleich.
Ich glaube, das hat den Muotathalern einen pragmatischeren Umgang mit dem Leben beschert.
Man kann es sowieso nicht ändern. Also nimmt man es, wie es kommt.
Die Wege des Lebens gleichmütig begangen
Im Thal gibt’s den Ausspruch: «Ä altä Maa hed Griffschuä aaghaa bim Schtäärbä: äs gang etz dä nidsi!» – Ein alter Mann hatte Schuhe mit Steigeisen an beim Sterben, es gehe jetzt dann abwärts.
Dieser augenzwinkernde Vergleich ist typisch[2] für die Muotathaler und bedeutet
dass man die Wege des Lebens gleichmütig und im besten Fall mit einer Prise trockenem Humor begeht.
Die ewige Ruhe bei Gott
Bis heute denke ich besonders in Abwärtszeiten ans verstorbene Mueti und ihre nüchterne Art:
«Durobsi isch äs au nüüd immer äifacher as durnidsi, aber as Ziiel choo simmer letschtäntli nu eister fröhli.»[3]
Im Muotathal spiegelt sich das Leben in einem stetigen Auf und Ab wider. Weder das eine noch das andere ist einfacher. Tägliche Herausforderungen, unerwartete Wendungen und neue Perspektiven gehören zum Leben dazu.
Und schliesslich, als Abschluss von allem, folgt die eebig Ruä (die ewige Ruhe), wie es meine tiefgläubigen Grosseltern formulierten. Ich finde das ein erleichterndes Lebensziel.
Beitragsbild zur Verfügung gestellt von Anita Brechbühl: Travelita – Reiseblog aus der Schweiz
Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Im Text «Frühlingshoffnung»schreibt sie über neue Hoffnung nach einer Depression, im Text «von grossem Mut und winzigen Mütchen» über den Mut, immer wieder etwas zu wagen.Auf Instagram postet sie als «die fromme Häretikerin» regelmässig Illustrationen und Texte.
[1] Wer sich für den speziellen Dialekt interessiert: Interview von SRF mit Kaplan Alois Gwerder, Herausgeber des Muotathaler Wörterbuchs. «SRF bi de Lüt – Unser Dorf im Muotathal». «SRF Kurioses vom Land – Der Fakir aus dem Muotathal».
[2] Die Muotathaler sind bekannt für ihren prägnanten Humor. Interessiert? Wie wärs mit einem Besuch im bekannten Theater Muotathal oder einer Wanderung auf dem Witzwanderweg?
[3] Aufwärts ist es auch nicht immer einfacher als abwärts, aber ans Ziel sind wir letztendlich noch immer irgendwie gekommen.