Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 4 Minuten

Vom Fallen und Fliegen

Es war ein extrem spontaner Entschluss. «Komm mit uns auf den Piz Cristallina, wir fliegen dann mit dem Gleitschirm runter», sagte meine Cousine. Einer ihrer supersportlichen Freunde habe einen Tandemschirm, also einen Gleitschirm, der zwei Personen tragen kann.

Es war ein strahlend schöner Herbsttag, ich hatte immense Lust, mich draussen zu bewegen. Werum also nöd.

Wenig später trafen wir uns tatsächlich für den Aufstieg. Der war steil, und je länger je kälter. Oben erwartete uns Schneegestöber. Und in der SAC-Hütte Kartenspiele und Berge von Pasta.

Angst vor dem Flug am nächsten Morgen hatte ich keine.

Auf die Frage «Und, bist du bereit?!» wusste ich nicht wirklich eine Antwort.

«Renn!»

Nach langem Suchen nach einem geeigneten Abflugplatz stand ich dann also dort, mit Andrea, der bereit war, mich mit seinem Tandem-Gleitschirm mitzunehmen. «Hör einfach darauf, was ich sage. Und wenn ich sage, renn, dann renn und stoppe erst, wenn ich es sage», meint er.

Meine Cousine hatte mir beim Frühstück zugeflüstert, Andrea sei imfall ein hohes Tier im Militär. Irgendwie stärkte das mein Vertrauen in den ruhigen, zurückhaltenden Mann. Lustig.

Item. Wir stehen also da, eingepackt in alle Kleider, die wir dabeihatten, und festgezurrt in unsere Gstältli am Schirm. «Geh mal zwei Schritte nach vorn», höre ich Andrea sagen.

Und dann, gefühlt aus dem Nichts sagt er: «Renn!».

Ein holpriger Start

Was macht mein Körper? Er setzt sich hin.

Irgendwie scheint das Verstehen nicht ganz bis zu ihm durchgedrungen zu sein. Ich werde im Gstältli hochgezogen, wir straucheln und stolpern den Hang hinunter, «finde den Boden mit deinen Füssen», höre ich Andrea rufen.

Angst habe ich immer noch keine.

«Wir könnens ja einfach nochmals versuchen», ist der einzige Gedanke, den ich wahrnehme. Doch soweit kommt es gar nicht, denn plötzlich sind wir in der Luft und fliegen. «Ich habe schon bessere Starts hingelegt», murmelt es hinter mir.

Nichts könnte mir egaler sein, denn: Ich fliege! Wen interessiert es, wie!

Ein endloser Zyklus von Fallen und wieder Aufstehen

Kennst du solche Situationen? Man hat verstanden, was einem gesagt wird, doch in der entscheidenden Situation macht man doch etwas komplett anderes.

Ich kenne das so so gut aus meiner Praxis, meinem Leben und Lernen:

Ich höre zu, verstehe – und tue dann doch manchmal das pure Gegenteil.

Wir fallen, stehen wieder auf, und meistens ist es auch kein Problem. Wir können das endlos wiederholen, und irgendwie fühlt sich das sogar ganz okay an.

Es ist, als ob uns das Leben ständig neu einlädt, wieder aufzustehen und es erneut zu versuchen. Denn irgendwann, irgendwann klappt es sogar dann, wenn du den Start ordentlich verhaust und strauchelst.

Und dann, plötzlich, gibt es diesen Moment, in dem wir uns erinnern.

Ach ja, stimmt, ich könnte einfach zurücklehnen ins pure Sein… , bis etwas wirklich klickt und «landet». Manchmal fühlt es sich an, als würde es ewig dauern, bis man es tatsächlich kapiert. Kapiert bis in alle Zellen des Körpers hinein.

Vermutlich wäre es beim nächsten oder übernächsten Gleitschirmflug auch so gewesen: Dass ich mich nicht hingesetzt, sondern tatsächlich den Berg hinuntergerannt wäre.

Kleine Dinge für einen enormen Unterschied

In meiner täglichen Arbeit mit Menschen sehe ich das immer und immer wieder.

Plötzlich kommt der Tag, an dem eine meiner am Morgen nicht automatisch mit ihrer To-Do-Liste aus dem Bett springt, sondern einen Moment innehält. Sich nochmals in die Kissen zurückfallen lässt. Mit einer Pause in den Tag startet. Und so ihre eigentlich so vertrauten Abläufe ganz neu erlebt.

Oder plötzlich ist da der Moment, in dem ein anderer Klient für sich selbst einsteht und seine Bedürfnisse äussert – nachdem er sich jahrzehntelang nicht getraut hatte, auszudrücken, dass er etwa jetzt wirklich keine Lust auf Kaffee hat. Oder nicht vier Stunden Autofahren mag, um seine Familie zu sehen.

Das sind unglaublich berührende Momente, magische Momente.

Es sind wüki diese vermeintlich ganz kleinen Dinge, die einen enormen Unterschied machen.

Der Aufwind findet dich so oder so

Am einfachsten ist es, beim Erlernen dieser neuen Herangehensweisen ans Leben spielerisch vorzugehen – dann braucht es viel weniger Wiederholungen, um etwas zu lernen. Warum? Weil wir dabei entspannter sind. Es ist weniger Druck vorhanden und mehr Freude.

Wenn ich im Spiel neue Einsichten verkörpere, kann ich durch simples Ausprobieren herausfinden, wo meine Blockaden sitzen. Wo ich zurückhalte. Ohne dass das zu einem Problem wird, das gelöst werden muss; wir spielen ja nur.

Und plötzlich gehen die Knöpfe auf und wir folgen nicht mehr alten Verhaltensmustern, sondern fliegen hoch über Tannwipfeln und Strommasten.

Weil der Aufwind dich einewäg findet und trägt. Weil du oft genug vertrauensvoll gefallen und wieder aufgestanden bist.

Bild: Getty/Unsplash+

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