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 Lesedauer: 4 Minuten

Vintage-Sommerlektüre (6): Simon Borowiak, «Frau Rettich, die Czerni und ich»

Auf der Suche nach Sommerlektüre? Was jedes Jahr neu auf den Buchmarkt kommt, lässt einen schwindeln, aber literarische Oldtimer halten da problemlos mit. Gastautorin Claudia Dahinden sinniert lustvoll, welche Bücher sie immer wieder lesen könnte und warum.

Zum Ende der Schulferien stelle ich euch ein Buch vor, das geradezu «Sommerlektüre» schreit. Der «Stern» meinte 1992: «Man inhaliert das Buch und ist sofort im Urlaub.»

«Frau Rettich, die Czerni und ich» von Simon Borowiak lässt sich in einem Rutsch lesen, denn es hat nur 130 Seiten. Aber die haben es in sich.

Ein wildgewordener Sprachkurs

Der Plot: Die Heldin und ihre Mitschülerin im Spanisch-Sprachkurs begleiten ihre Lehrerin Frau Rettich ins Land Picassos, wo letztere einen schönen Einheimischen heiraten will.

Eine tumultartige Reise durch Frankreich und Betrachtungen über Gott und die Welt runden die nicht allzu ernstzunehmende Geschichte ab.

Das Trio: Die Erzählerin, von ihrer Lehrerin «Goldstück» genannt, ist eine kleine Besserwisserin mit grossem Latinum, wüstem Mundwerk und einem Hasenherzchen. Die Spanischlehrerin, Frau Rettich, ist das Alphaweib des Trios, eine blonde Prachtfrau auf Stöckelschuhen.

Die dritte im Bunde, vom «Goldstück» despektierlich «die Czerni» genannt, interessiert sich weniger fürs Spanisch Lernen und mehr für den dazu genossenen Weisswein, kann aber in allen Sprachen Essen bestellen.

Herrliches Gschtürm in flapsigem, originellem Stil

Drei so unterschiedliche Frauen kabbeln sich naturgemäss. Vor allem das «Goldstück» und «die Czerni» geraten sich regelmässig in die Haare. Die beiden müssen ja auch ein Zimmer teilen.

Alphaweib Rettich krallt sich überall das Beste. Stets mit der rhetorischen Frage «oder will eine von euch…?» unter gleichzeitigem Abstellen des gigantischen Kosmetikkoffers an der strategisch wirksamsten Stelle des Zimmers.

Die Schreibe hat es mir besonders angetan.

Zum Beispiel, als «Goldstück» befindet, die Schuhe der Czerni seien schon der letzte Schrei. Allerdings der letzte Schrei des guten Geschmacks, bevor er abgestochen und zu Schuhen für Czerni verarbeitet werde.

Oder als sie im idyllischen Spanien auf ein Strassenbordell treffen und «Goldstück» ernüchtert festhält, auch hier spreche man «die Sprache des zahlenden Gliedes, das Zipfel-Esperanto.»

Philosophische Ausflüge

Trotz all den Kalauern wird das Büchlein zuweilen nachdenklich, zum Beispiel wenn «Goldstück» sinniert, dass wir immer das wollen, was wir nicht haben.

In der Heimat zieht es uns in die Ferne; sind wir in der Ferne, sehnen wir uns nach dem Bekannten.

Ein Auszug: «Bin ich bescheuert, freiwillig mein Land zu verlassen? Was soll ich – so jung – in der Fremde? Im Nieselregen kenne ich mich aus. Wenn wo wer lacht, weiss ich worüber. Wenn wo Marmorkuchen draufsteht, ist auch Marmorkuchen drin.»

Religiöse Komponente

Auch eine religiöse Komponente fehlt nicht. So nehmen die drei Damen an einem Fronleichnamsfest teil und entzünden strategisch ein paar Kerzen in einer Barceloner Kirche, obwohl «Goldstück» mit der Kirche nichts am Hut hat.

Aber wer weiss, vielleicht kann man damit alle Probleme beseitigen? «Her mit den Kerzen! Jetzt wird die Welt gerettet! Und dazu 6 Richtige mit Zusatzzahl! Ergriffen eile ich in den Dom.»

Reminiszenz an meine Kindheit

Nostalgisch werde ich, wenn «Goldstück» das spanische Kinderfernsehen viel besser findet, als von einer schnaufenden Maus in einer Joghurtfabrik gelangweilt zu werden oder von Lilo Pulver den bekloppten Bibo auf sich hetzen zu lassen.

Der Autor gehört mit Jahrgang 1964 knapp zu meiner Generation X, und wenn die Sendung mit der Maus oder Michael Schanze thematisiert werden, bin ich gleich wieder acht Jahre alt.

Fazit: Das Büchlein ist eher sinnfrei und etwas ungehörig, aber einfach ein Riesenspass, der das Hirn auflockert und das Herz erfreut. Ich glaube, so eine sinnfreie, ansatzweise unanständige Zeitverschwendung dient der geistigen und seelischen Hygiene.

Auch das ist Arsch, ich meine, Ars Vivendi!

Liest du manchmal auch «sinnfreie» Bücher? Schreib mir deine Lieblinge in die Kommentare!

 

Claudia Dahinden schreibt für RefLab eine Sommerserie über ihre Lieblingsbücher. Die Autorin (Saga «Die Uhrmacherin»), Musikerin und pastorale Mitarbeiterin lebt in Grenchen. Wenn sie nicht schreibt oder liest, konsumiert sie mit Hingabe nerdige Fernsehserien. 

Illustration: Rodja Galli

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