Dein digitales Lagerfeuer
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Swiss Overshoot Day – ein Gedankenexperiment

Zwölf. Keine andere Zahl hat mich je so wütend gemacht wie diese. Wer denkt, dass Zahlen emotionslos sind, hat noch nie Mario Kart gespielt: Ich bin in der letzten Runde und mein Herz rast, als hätte es selbst einen Turbopilz gefressen. Die Fünf neben meinem Rennauto verwandelt sich in eine Zwei. Zweitvorderste! Doch als ich in die Zielgerade einbiege, passiert die Katastrophe: Luigi wirft mich bei einem Überholmanöver von der Brücke. Ich gebe Geräusche von mir, zu denen eine Pfarrerin eigentlich nicht fähig sein sollte und tuckere als Zwölfte ins Ziel.

Das Tor zu Selbstzweifeln

Zwölf ist keine Zahl. Zwölf ist das Tor zu allen meinen Selbstzweifeln. In der Stimmlage meiner enttäuschten Lehrerin höre ich plötzlich alle vergangenen Jobabsagen, erfolglosen Dates und vertrockneten Zimmerpflanzen:

«Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen…» «…dass du zu wenig interessant bist für mich» «…und es nie zu etwas bringen wirst, wenn sogar regelmässiges Giessen deine Fähigkeiten übersteigt.»

Saftige Ohrfeige

Es gibt wenig, das so unbarmherzig das eigene Versagen aufzeigt, wie eine Zahl. Heute ist der Swiss Overshoot Day. Eine trockene Zahl: Nach 148 Tagen hat die Schweizer Bevölkerung schon alle Ressourcen verbraucht, die ihr für dieses Jahr zustehen. Der Swiss Overshoot Day versucht, diese trockene Zahl in eine saftige Ohrfeige zu verwandeln. Unbarmherzig klatscht uns der Overshoot Day das eigene moralische Versagen ins Gesicht:

«Wir sind schuld, wenn die Menschen im globalen Süden hungern.»

Kein Spiel …

Eigentlich müssten mich die 148 Tage mindestens so wütend machen wie die 12 neben dem Rennauto. Doch statt mich zu einer Höchstleistung herauszufordern, schüttet mich der moralische Apell mit Schuldgefühlen zu. Nachhaltige Ressourcennutzung ist kein Spiel.

… oder doch ein Spiel?

Was würde passieren, wenn der Swiss Overshoot Day seine moralische Konnotation abstreift und sich in einen belanglosen Highscore verwandelt? Wagen wir ein Gedankenexperiment: Klimaschutz wird zu einem Spiel, bei dem alle Länder in einem internationalen Wettkampf gegen einander antreten und versuchen, ihre jeweiligen Overshoot-Days möglichst weit nach hinten zu schieben. Veranstalterin ist die «Föderation Internationaler Fussabdruck Aufholjagd» (FIFA).

Talent-Scouts schwärmen aus, um die vielversprechendsten Erfindungsgeister und sozialen Transformator:innen in Trainingscamps auszubilden. Die ganze Nation verfolgt den Live-Ticker, der von bedeutenden Fortschritten und Rückschlägen auf dem Weg zur Klimaneutralität berichtet. Fankurven jubeln dem Parlament zu, wenn es ein neues CO2-Gesetz verabschiedet. Die Overshoot-Ländertabelle ziert jeden Desktop-Hintergrund.

Das alles tun wir nicht, weil wir versuchen, gute Menschen zu sein – sondern weil Gewinnen Spass macht und Jubeln verbindet.

Einfach Spass haben

So ein Overshoot-Game ist nicht realistisch. Nicht einmal ein bisschen. Und genau deshalb bringt es mein Gehirn zum Kribbeln. Gedankenspiele geben mir Energie. Mein Gehirn kann atmen, ohne das übliche Korsett von «Ist das umsetzbar?» oder «Was soll das bringen?». Dasselbe gilt für meine Taten.

Manchmal gehe ich nur deshalb an eine Klimaaktion, weil es Spass macht und weil ich die Leute mag.

Nicht um damit die Welt zu verändern. Das gemeinsame Demoplakatmalen wird zu einem Bastelnachmittag mit Freunden. Das Unterschriftensammeln wird zu einer Gruppen-Challenge. So kann ich mich freuen, obwohl es bereits fünf vor Zwölf ist.

Die Theologin und Pfarrerin Anna Näf engagiert sich für Christian Climate Action. Für RefLab schrieb sie auch die Klimakolumne Planet A.

Country Overshoot Days 2024.

 

Foto: Foto von Kelly Sikkema auf Unsplash

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