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 Lesedauer: 3 Minuten

Selbstsorgegespräche (3): Ich will nicht heilig sein!

«Kannst du dich eigentlich als Täter sehen – oder nur als Opfer?»

Autsch, die Frage erwischt mich am falschen Fuss. Natürlich nicht! Ich tue keiner Fliege etwas zuleide. Ich bin eine friedliebende Zeitgenossin. Ich bin eine Frau.

Andererseits: Eine Heilige bin ich auch wieder nicht, möchte es nicht sein. «Heilig», «brav» oder «fromm» sind in meiner Alterskohorte Synonyme von «langweilig».

Ich bin keine Heilige, möchte keine sein

Nach ein paar Minuten denke ich noch immer angestrengt nach. Da wird mein Gedankenstrom jäh unterbrochen:

«Aha, dir fällt es schwer, dich anders als in der Opferrolle zu sehen. Dachte ich mir.»

Mein Gegenüber kennt mich zu gut. Nach einer kleinen Ewigkeit fallen mir glücklicherweise zwei Episoden ein, in denen ich mich fies verhielt: aus der Kindheit.

Ich bin erleichtert. Die Kindheit ist doch immer wieder ein zuverlässiges Erinnerungsreservoir. Der Grundverdacht einer einseitigen Opferrollenfixiertheit ist durch zwei Episoden – wiederholtes Schienbeintreten; den Cousin würgen –  freilich nicht wirklich ausgeräumt.

Nach der Kinderzeit, war da wirklich nichts mehr?

Ok, ich sehe es ein: Dass ich die Verletzte bin, ist für mich normal. Dass ich mit meinem Verhalten andere kränken oder schädigen könnte, und sei es ungewollt oder unbewusst, fällt mir schwerer zu denken. Es passt nicht zu meinem Mindset.

Als Angehörige des sogenannten «schwachen Geschlechts» bin ich natürlich in ein Rollenbild des Bravseins, Erduldens und Erleidens, also der Passivität, hineingewachsen.

Freilich ist mir klar, dass man auch mit Leidensattitüde Druck und Macht ausüben kann. Man denke z.B. an sich chronisch «unpässlich» fühlende Elternteile, die Kinder und Partner mit ihren Leiden manipulieren.

Die enorme Aufmerksamkeit, die die #MeToo-Bewegung erhielt, lässt sich als Indiz dafür nehmen, dass Mädchen und Frauen heute Täterverhalten nicht mehr passiv hinnehmen, was ein grosser Fortschritt ist. Die Opferrolle aber schreibt sich dennoch weiter fort, gerade auch durch Kampagnen wie #MeToo.

Frauen in der K.O.-Rolle

Im jüngsten #MeToo-Skandal um den Rammstein-Frontman Till Lindemann ist der Passivismus gesteigert durch das Motiv junger Frauen in der K.-O.-Tropfen-Rolle: in Serie parat gemacht für das «Rape Date».

Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre beschreibt in seinem #MeToo-Roman «Noch wach?» Machotypen aus der Medienbranche: Typen, die Schwäche und Abhängigkeit junger Frauen kaltblütig ausnutzen.

Mit Vorwürfen konfrontiert, schieben Täter ihren Opfern die Schuld in die Schuhe und stilisieren sich ungeniert als die eigentlichen Opfer.

Funktioniert das auch umgekehrt? Muss ich mich bis zu einem gewissen Grad als Täterin begreifen, um von einer einseitigen und möglicherweise sogar bequemen Opferrolle wegzukommen?

Selbstwirksamkeitserwartung

Die Fokussierung auf eigene Verletzungen und Traumatisierungen macht mich empfindlich für mich selbst. Es ist ein notwendiger Schritt. Dann aber stellt sich unweigerlich die Frage, die mir gestellt wurde: Kannst du dich auch anders wahrnehmen als in der Opferrolle?

Glaubst du, dass deine Taten Folgen haben, positive wie auch negative?

Siehst du dich eher als Spielball anderer oder als jemand, der sein Leben in die eigene Hand nimmt? Erfährst zu dein Handeln als wirksam, als selbstwirksam, oder nicht?

Selbstwirksamkeit ist, kurzgefasst, das Gefühl, eigene Ziele erreichen zu können. SWE – Selbstwirksamkeitserwartung ist die Überzeugung, Herausforderungen, auch extreme, aus eigener Kraft bewältigen zu können und aufgrund eigener Kompetenzen Erfolge zu erzielen.

Die Opferrolle kann sich wie eine gepolsterte Chaiselongue der Fragilität und Vulnerabilität anfühlen. Man kann auf ihr eine Weile sitzen bleiben. Dann aber wird es Zeit, aufzustehen und sie hinter sich zu lassen.

 

Legendäres historisches Dokument, in dem kontrovers über Frauen und Opferrolle diskutiert wird: Alice Scharzer contra Esther Vilar («Der dressierte Mann») aus dem Jahr 1975.

 

Alle Beiträge zu «Selbstsorgegespräche»

5 Gedanken zu „Selbstsorgegespräche (3): Ich will nicht heilig sein!“

  1. Interessant. Ich möchte gern ein Heilger sein, weil ich mir nichts Besseres vorstellen kann. Natürlich ist für mich ein Heiliger kein frömmelndes Wesen, sonder ein Mensch, gesund nach Geist, Seele und Leib. Und zum Glück durfte ich mich diesem Typus immer mehr annähern und so aus meiner selbstzerstörerischen Haltung, aus meinen Depressionen herausfinden. Ein Heiliger ist für mich der freieste Mensch, den es geben kann. Meine Gedanken und Erfahrungen, teile ich u.a. auf meinem Blog mit: https://manfredreichelt.wordpress.com/

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    • Danke fürs kommentieren. Manchmal ist es ja so: ein Wort leiert ein bisschen aus, aber der Inhalt ja nicht. So ist es für mich bei heilig.

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    • “Heil sein” = gesund sein! Ich würde gerne “heil” sein. Das ist der eigentliche Begriff “Heil-ig”. Gott sagt zu den Menschen: “Seid heilig, denn auch ICH, euer Gott bin heilig! Warum soll ich mich dagegen wehren, “heilig” zu sein? Seit einen Unfall habe ich ein kürzeres Bein! Ich wäre froh, wenn es “geheilt” würde! Andere Menschen sicher auch, wenn sie “geheilt” werden könnten.

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  2. Der Titel sprang mir ins Auge und löste sofort die Spontanreaktion aus: Gott sagt Du darfst heilig sein. Mensch sagt, will ich nicht. So habe ich alles gelesen und muss sagen die Schlagzeile führt in die Irre, aber das kennt man ja – siehe Blick .

    Es kam zwar die Aussage, dass Sie nicht heilig sein will und so wie Sie Heilig versteht, würde ich das auch nicht wollen.

    Die Gedanken zur Opferrolle des schwachen Geschlechts kann ich als Mann etwas nachvollziehen. Bin sehr froh, dass Jesus sein Opferrolle anders sah.

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  3. Mann und Frau bedingen einander! Ohne Frau, kein Mann! Ohne Mann, keine Frau! Meine Liebe gehört m-einer Frau! Wilhelm Busch zitierte: “Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet! “Oh wie lieblich und wie schicklich ist es doch für eine Gegend, wenn zwei Menschen, die vermögend, aber vom Geschlecht verschieden, sich von Herzen innig lieben um in Ehren und Beizeiten zum Traualtar hin schreiten. Dann ruft jeder inniglich: Gott sei Dank, sie haben sich!”

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