Weil die Plätze für intensivmedizinische Betreuung knapp werden und das medizinische Personal klare Kriterien braucht, um die Patient*innen zu verteilen, haben die Schweizerische Akademie für Medizinische Wissenschaften zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin eine Richtline erlassen.
Die medizinethischen Kriterien «Gutes tun, Nichtschaden, Respekt vor der Autonomie und Gerechtigkeit» sind dabei leitend für die Entscheidungsfindung darüber, wem, in welchem Umfang, welche Hilfe unter Bedingungen der Ressourcenknappheit zukommen soll.
Die Richtlinen halten explizit fest, dass zusätzliche Kriterien «wie Losverfahren, ‘first come, first served’, Priorisierung von Menschen, die einen hohen gesellschaftlichen Wert haben etc.» nicht zur Anwendung gelangen dürfen.
Als Laie beeindruckt mich dieses Papier. Es ist ein echter Anwendungsfall von Ethik. Mit diesen Kriterien wird in den nächsten Wochen über die Zuteilung lebenserhaltender und lebensrettender Massnahmen entschieden werden. Die Empfehlungen sind konkret und verfolgen insgesamt das Ziel, eine «grösstmögliche Anzahl von Leben» zu retten. Das Trolley-Problem (1) – dieses moralische Gedankenexperiment, in dem du entscheiden musst, ob du ein Leben opferst, um fünf Leben zu retten – wird hier differenziert, umsichtig und in verständlicher Form beantwortet. Lösen kann man es nicht. Aber es gibt bessere und schlechtere Antworten. Und die Antwort dieser Richtline ist sehr gut.
Kriterien und Grenzen
Das Trolley-Problem ist deshalb so interessant, weil an ihm die Prinzipien der ethischen Urteilsfindung beobachtbar werden. Und weil man immer weiter problematisieren kann: Was, wenn die Frau, die durch mein Umstellen der Weiche getötet wird, ein Krebsmedikament entwickelt und ihre Ergebnisse noch nicht weitergegeben hat? Was, wenn sie die Präsidentin der Vereinigten Staaten ist und in Kürze den Frieden für den Nahen Osten aushandeln würde? Was, wenn sie zuhause fünf Kinder hat, für die sie alleine sorgt?
Und natürlich muss man fragen, ob die Versuchsanordnung hinreichend erklärt ist. Sind alle Betroffenen berücksichtigt? Denn wenn nicht, ist das Trolley-Problem nicht mehr, als kinderleichtes Kopfrechnen. Und dann gibt es noch diese Kardinalsunterscheidung zwischen Ereignis und Handlung: Es ist nämlich nicht dasselbe, den Hinterbliebenen zu erklären, dass jemand gestorben ist durch einen Unfall, wie ihnen mitzuteilen, dass jemand die Weiche umgestellt und ihn getötet hat. Vor allem nicht für den Menschen, der die Weiche umstellt.
Die Richtline schlägt vor, die fünf Menschen zu retten, ausser sie sterben ohnehin binnen 24 Monaten. Das ist weder richtig noch falsch. Es scheint mir aber ziemlich vernünftig. Und einigermassen praktikabel.
Europa auf der Intensivstation
Europa hat keine solche Richtline, an der sie sich orientiert. Aber wie das halt so ist, bei moralischen Gedankenexperimenten: Du kannst nicht nicht entscheiden. Wir Europäer*innen entscheiden uns gerade, dass die über 20’000 Menschen im Auffanglager auf Lesbos geopfert werden dürfen. Während wir unsere Hände waschen und zuhause bleiben, haben sie auf 100 Personen eine Toilette und kein Zuhause. Logisch: Das Lager ist zehnfach überbelegt! Unser Kriterium ist nicht wie in den Spitälern eine «grösstmögliche Anzahl von Leben» zu retten. Sondern das Leben von Europäer*innen möglichst angenehm zu halten.
Diese Menschen zählen nichts. Ihre Leben waren uns gleichgültig, als Assad sie weggebomt hat. Und jetzt, wo wir «im Krieg» gegen COVID-19 sind, können wir ihnen erst recht nicht helfen. Europa ist aber nicht einfach eine geografische Fläche mit verschiedenen zugehörigen Nationalstaaten. Europa ist eine Idee. Und ein Glaube an universale Menschenrechte. Europa sagt: «Es darf dir hier in Bern nicht egal sein, was 2500 km südöstlich mit den Menschen geschieht.» Europa hat Werte definiert, zu denen es sich bekennt. Im Artikel 15 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist der «Notstandsfall» definiert, in dem wir uns jetzt wähnen:
«Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.»
Falsches Dilemma
Wir haben die Aufgabe nicht begriffen. Die Frage an uns Europäer*innen ist nicht, ob der Trolley in eine kleinere oder grössere Menschenmenge fährt. Die Frage, die sich uns stellt ist folgende:
Der Trolley fährt seit Wochen und Monaten täglich in eine Menschenmenge. Dürfen sie über deinen Gartenzaun klettern, um sich in Sicherheit zu bringen, oder beschiesst du sie mit Gummischrot, Wasserwerfern und Tränengas, weil du nicht genügend Zelte hast, in denen sie übernachten können?
So oder so. Du kannst nicht nicht antworten.
#LeaveNoOneBehind
Du kannst hier eine Online-Petition unterschreiben. Du kannst Geld spenden, damit das Anliegen mehr Menschen erreicht. Du kannst in den Sozialen Medien darüber sprechen, damit dein Umfeld diese Menschen nicht vergisst. Das geht alles von zuhause aus.
Wir entscheiden jetzt alle gemeinsam darüber, wer wir sein werden, wenn diese Krise vorbei ist. Wir können nicht nicht antworten. Und es liegen Welten zwischen einem Ereignis und einer Handlung, zwischen dem, was uns passiert und dem, was wir zulassen.
P.S. Ganz herzlich möchte ich diese tolle Aktion empfehlen!
«Die Osterkollekte der EKS ist somit ein Spendenaufruf. Und deswegen ganz sicher nicht weniger dringlich.»
(1) Eine Straßenbahn ist außer Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Straßenbahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Unglücklicherweise befindet sich dort eine weitere Person. Darf (durch Umlegen der Weiche) der Tod einer Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten? (Fassung von Philippa Foot: The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect, in: Virtues and Vices, Basil Blackwell, Oxford 1978.)
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