Exkursion in die Vergangenheit
Die Schulglocke klingelt.
«Bringt morgen eure VR-Brillen mit – wir machen eine Exkursion zurück ins Jahr 2022.»
Kayla packt still ihre Sachen ein und geht langsam zur Tür. Sie hält inne: «Herr Keller, ich weiss nicht, ob ich es aushalte, so tief in diese düstere Zeit einzutauchen.»
Der Lehrer nickt mitfühlend: «Wenn es dir zu viel wird, kannst du die Brille jeder Zeit abnehmen. Aber ich finde es wichtig, dass ihr euch mit der Vergangenheit unseres Landes befasst. Wer sich an die Fehler von früher erinnert, wird sie nicht wiederholen.»
Die Schuld der Grosseltern
Roman hat mitgehört und bleibt ebenfalls stehen: «Ich habe schon ein paar Mal versucht, mit meinen Grosseltern über diese Zeit zu sprechen. Aber jedes Mal verhärtet sich ihre Miene und sie wechseln das Thema. Ich glaube, sie schämen sich, dass sie damals nichts dagegen unternommen hatten.»
Jetzt ist Kayla den Tränen nahe. Mit zitternder Stimme sagt sie: «Ich kann es einfach nicht verstehen! Alle haben gewusst, was abgeht. Es war kein Geheimnis. Aber sie haben einfach so getan, als wäre es nicht ihr Problem.»
Hoffnung statt Moralpredigt
Mit pädagogischem Fingerspitzengefühl lenkt Herr Keller das Gespräch in eine neue Richtung: «Wenn ihr den Leuten von damals einen Rat geben könntet – was würdet ihr ihnen denn sagen?»
Nachdenkliches Schweigen. Nach einer Weile sagt Kayla: «Es gab damals schon genug, die sagten: ‹Wacht endlich auf!› Wir könnten ihnen stattdessen sagen: ‹Es kommt gut! Die Menschheit ist nicht verloren. Gemeinsam schaffen wir das.› Vielleicht kann Hoffnung mehr bewirken als eine Moralpredigt.»
Herr Keller lächelt zufrieden.
Wir haben es geschafft!
«Am Ende haben wir die weltweite Klimaneutralität ja erreicht!», bemerkt Roman, und prahlt mit seinem Wissen über die jüngste Vergangenheit:
«Immer mehr Leute wurden angesteckt von der Liebe, die Gott zu diesem Planeten hat. Bürger:innen, Städte und Nationen begannen ihre eigenen Interessen zurückzustellen, und plötzlich waren grosse Veränderungen möglich: Politische Parteien beendeten ihre Grabenkämpfe und stiegen aus der Öl- und Gasindustrie aus. Binnen weniger Jahre wurde das ganze europäische Stromnetz aus erneuerbaren Energiequellen gespeist: Windenergie von den Küstenländern deckten die Lücke, wenn die Sonne sich nicht blicken liess. [1] Menschen im globalen Norden schraubten ihren Energieverbrauch zurück und halfen mit, im globalen Süden ein flächendeckendes System aus erneuerbarer Energie aufzubauen.»
Er hätte wohl noch lange weitergeredet, doch Kayla seufzt laut: «Nur leider kam das alles viel zu spät.» Mit hängenden Schultern setzt sie ihre Atemschutzmaske auf und geht durch die erhitzten Strassen der Millionenstadt Davos nach Hause.
Grafik: Rodja Galli