Ameisenplage
Der Bundesrat hat mir beigebracht, wie man eine Ameisenplage loswird.
Als würden sie alle von demselben Navi gelenkt, reihen sich die winzigen Ameisenkörper hintereinander ein und manövrieren durch den Spalt in der Terrassentür. Die doppelspurige Kolonne bewegt sich über meinen Fussboden und klettert am Tischbein hoch. Bei der Raststätte «Früchteschale» legt sie eine kurze Pause ein, bevor sie auf den Vorratsschrank zusteuert.
Mehr Raum
Natürlich freut es mich, dass die Ameisen ihren Horizont erweitern und meine Küche erkunden möchten. Aber sie zerstören damit meine Vitaminzufuhr. Also ergreife ich die einzig logische Massnahme: Ich stelle eine weitere Früchteschale auf den Tisch. Die erste überlasse ich den Ameisen, die zweite ist für mich.
Ausbau
Am nächsten Morgen stehe ich vor einer vierspurigen Ameisenstrasse, die sowohl meinen Müsli-Apfel als auch meinen Appetit anknabbert. Noch ist es nur der Tisch, der meine wütende Faust zu spüren bekommt. Doch das würde sich bald ändern.
Noch mehr Raum
Am Abend mache ich mich an die Arbeit: kleine Apfelstücke schlängeln sich von der Terrassentür unter dem Sofa durch bis zum Fenster, das ich extra einen Spalt breit offen lasse. Sie führen die Ameisen auf direktem Weg wieder nach draussen. Sollten sich doch ein paar in Richtung Tischbeine verirren, werden sie dort von aufgeschnittenen Orangen und Nektarinen eine Weile beschäftigt. «Ich habe eine Lösung gefunden, von der alle profitieren», denke ich stolz.
Überflutet
Am nächsten Morgen verliere ich den Glauben an das Gute in der Ameise. Aus allen Ritzen ergiessen sich die kleinen schwarzen Tierchen über meine Wände, erobern meinen Fussboden und überfluten mein Herz mit purer Verzweiflung.
Ich bewaffne mich mit einem Besen, reisse die Terrassentür auf und fege die kleinen Biester nach draussen. Doch der Kampf ist aussichtslos. Völlig erschöpft sehe ich irgendwann keinen anderen Ausweg mehr, als mich ihnen selbst in den Weg zu legen.
Was habe ich falsch gemacht?
Während ich auf dem Boden liege und das Krabbeln auf meiner Haut spüre, frage ich mich, was ich falsch gemacht habe. Ich habe doch dieselbe Strategie gewählt, die auch der Bund nutzt, um Verkehrsprobleme zu lösen: Wenn es zu viele Autos auf den Strassen hat, dann muss man ihnen mehr Raum geben.
Alternativen
Klar, es gäbe auch andere Lösungsansätze: Man könnte den Güterverkehr auf unterirdische Schienen verlegen oder durch Mobility Pricing dafür sorgen, dass nur noch die wirklich notwendigen Fahrten mit dem Auto unternommen werden. Aber scheinbar ist es vielversprechender, wenn man die Autobahnen schweizweit ausbaut. Bestimmt bleiben dann die städtischen Strassen vom zusätzlichen Autoverkehr verschont und die Menschen werden irgendwann von selbst auf nachhaltige Mobilität umsteigen.
Kein Vorwurf
Eine Ameise krabbelt mir über die Wange und ich lasse es zu. Dieser einzelnen kleinen Ameise kann ich nichts vorwerfen. Es war schliesslich mein Fehler, dass ich nicht gleich das Loch in der Terrassentür geflickt habe.
Grafik: Rodja Galli