Ein engagierter Fussballfan
«Dieser Typ überschätzt seine Rolle in diesem Spiel», denke ich kopfschüttelnd. Ich stehe auf der Schützenwiese und feuere mit moderater Zurückhaltung den FC-Winterthur an. Ein Herr mittleren Alters steht hinter mir und sieht aus, als wäre das Stadion sein Wohnzimmer und sein Wohnzimmer eine FCW-Ruhmeshalle.
Vom Fan zum Trainer
Das mittelmässige Spielverhalten des FCWs und der hervorragende Bierkonsum des engagierten Fans tragen dazu bei, dass er sich mehr und mehr in einen Trainer verwandelt: «Reiss dich zusammen, Kusti!», schreit er den Goali an. Die übrigen Spieler informiert er in derselben Lautstärker darüber, dass ihre Abwehr einem offenen Scheunentor gleiche.
Szenenwechsel
Ich schätze die leidenschaftliche Beteiligung dieses Fans, doch seine Rufe bewirken wohl nicht mehr als ein Dröhnen in meinen Ohren. Plötzlich spielt sich vor meinem inneren Auge eine ähnliche Szene ab: Ich sehe mich selbst während einer Klimademo, wie ich aus voller Kehle rufe «Ufä mit de Klimaziel, abä mit em CO2!»
Die Menschheit als Retterin?
Schon öfter versuchte mich eine naturverbundene Freundin zu beruhigen: «Du überschätzt die Rolle von uns Menschen in diesem Spiel. Die Natur reguliert sich schon selbst − wir Menschen müssen da nichts tun.» Ein christlicher Freund gelangt auf einem anderen Weg zu derselben Tatenlosigkeit: «Gott kümmert sich schon um den Planeten. Wir sollten nicht das Gefühl haben, irgendetwas oder irgendjemanden retten zu müssen.»
Überschätze ich uns?
Haben sie recht? Sind wir Menschen am Ende nur Fans, die zuschauen, wie physikalische, biologische oder spirituelle Kräfte um unsere Zukunft spielen? Überschätze ich das, was wir als Menschen bewirken können?
Wir stehen an der Seitenlinie
Als diese Einsicht vollständig in mein Herz gesickert ist, löst sich ein Jubelschrei aus meiner Kehle. Da der FCW gerade den Ball verloren hat, treffen mich ein paar skeptische Blicke. Doch das ist mir egal. Alles ist auf einmal egal. Was ich tue, spielt überhaupt keine Rolle − ich stehe nur an der Seitenlinie des Weltgeschehens und habe absolut keinen Einfluss auf den Ausgang des Spiels. Kein Mensch kann irgendetwas daran ändern.
Alles ist egal
Voller Freude kippe ich mein Bier über den Zuschauer vor mir, renne durch die Reihen, reisse einem verwirrten Ultra die Fahne aus den Händen, zünde sie an und rufe lachend: «Nichts was wir tun, spielt irgendeine Rolle!»
Ohne blaues Auge davongekommen
Glücklicherweise hat sich auch diese Szene nur vor meinem inneren Auge abgespielt, sonst würde ich jetzt wohl mit einem blauen Auge auf dem Boden liegen. Während Blut aus meiner Nase tropfte, hätte ich verstanden, dass das Leben nicht aus Spieler:innen und Fans besteht: Alles was wir tun oder nicht tun hat Konsequenzen. Wir Menschen haben zwar nicht den ganzen Planeten in unserer Hand, aber unsere Hände können doch Blut fliessen und Flüsse austrocknen lassen.
Grafik: Rodja Galli