Kleine Flüsse: In seiner Jugendzeit hatte er dort mit Freunden Kanufahrten unternommen. Sie hatten Lagerfeuer angezündet und neben kupferfarbenen Kiefernstämmen gezeltet.
Heute ist der Waldboden trocken wie Zunder. Er entflammt sich von selbst. Waldbrände ungekannten Ausmasses fressen sich in die Landschaft. Die Flüsse seiner Kindheit und Jugend, die er seinem Sohn zeigen will, sind Rinnsale geworden, gesäumt von Plastikmüll.
Er will, dass auch sein Sohn die beglückende Erfahrung naturbelassener Bäche macht: auf die Gefahr hin, dass dieser später ebenfalls Solastalgie fühlt.
Er fühlt Solastalgie
«Wir hatten einmal ein Leben, jetzt haben wir nichts mehr», sagt eine ukrainische Kriegswitwe in die Kamera. Mit dem Frieden ist auch jegliche Normalität ihres alltäglichen Lebens verloren gegangen. Die Verlusttrauer bohrt sich in ihren Solarplexus.
Sie fühlt Solastalgie
Frei atmen war einmal der Normalzustand. «Wie war das damals?», fragt das Kind mit grossen Augen. Es ist in einer Welt Corona-maskierter Gesichter aufgewachsen. Es hat gefiltertes Atmen eingeübt. Es kennt die Welt nur als Virenwelt. Die Luft zum Atmen ist für das Kind nicht lebendiger Odem, sondern potenzielle Gefahr.
Ich fühle Solastalgie
Mein Wort des Jahres – Solastalgie – fällt eindeutig unter die Rubrik «sperrige Worte». Der Begriff setzt sich dennoch zunehmend durch: als Bezeichnung für etwas, für das wir zuvor in unseren Sprachen tatsächlich kein Wort hatten.
Solastalgie: die Bedeutung
Geprägt hat die Wortneuschöpfung vor rund zwanzig Jahren der australische Klimaforscher Glenn Albrecht: und zwar aus den Silben von Trost (solace) und Schmerz (-algia).
Glenn Albrechts Definition lautet:
«Solastalgia is: Homesickness which you feel when you’re still at home.»
Solastalgie ist eine Art Nostalgie. Während sich aber Nostalgie auf etwas räumlich und zeitlich Entferntes bezieht, bezieht sich Solastalgie auf das Hier und Jetzt, auf die unmittelbare Umgebung, die ungewohnt oder unheimlich wird. Man kann es auch mit dem Gefühl vergleichen, das Flüchtlinge fern der Heimat haben, bloss dass im Fall von Solastalgie dieses Gefühl auftaucht, ohne das wir den Ort wechseln.
Es gibt, sagt Glenn Albrecht, nicht nur Kipp-Punkte («tipping points») des Weltklimas, sondern auch «tipping points in the minds». Solastalgie als eine Form der Umwelttrauer oder des Umweltschmerzes kann also auch ansteckend sein und viral werden.
Trost zurückbringen
Die Ursachen für Solastalgie sind unterschiedlich: Bergbau, Kriege, Klimawandel, Naturkatastrophen, Atomunfälle. Mit klimatischen Veränderungen und zunehmenden Konflikten hört die Welt auf, der bergende Ort zu sein, den wir kannten.
In manchen Märchen findet sich ein Nachhall einer Vorstellung der Erde als liebevolle «Grosse Mutter», zum Beispiel in «Schneeweisschen und Rosenrot». Darauf weist der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann in seinen hinreissend zarten und tiefen Märchenanalysen hin.
Statt aus erhobener Erwachsenenperspektive ironisch zu lächeln, sollten wir fragen, wie wir wieder in Resonanz treten können: zu unserer Umwelt und zu uns selbst.
Interessant ist, dass sich aus der ursprünglichen Wortwurzel für «zu Hause sein» das griechische Wort für «Freiheit» entwickelte («eleútheros»). Wer vertrieben wurde, gar in Sklaverei geriet, verlor mit dem Zuhause auch die Freiheit.
Würde mit mehr Geborgenheit auch wieder mehr Freiheit in unsere Welt zurückkehren? Würden wir von toxischen und suchtartigen Gewohnheiten lassen können, von denen wir genau wissen, wie umweltschädlich sie sind?
Glenn Albrecht prägte später einen zweiten Begriff: «Soliphilie». Es geht darum, Trost an Orte zurückzubringen.
Lasst uns erfinderisch sein und jetzt damit anfangen, Trost zurückzubringen!
Bei einer Onlinekonferenz mit dem Titel «Glaube Liebe Wandel. Kirche in der sozial-ökologischen Transformation», veranstaltet von der Melanchthon Akademie (Köln) und der Evangelischen Akademie im Rheinland (Bonn) im Frühjahr 2022 war ich zu einem Vortrag über Solastalgie eingeladen; bei Tagungen im Kloster Kappel und in Zürich griff ich das Thema erneut auf.
1 Gedanke zu „Mein Wort des Jahres [3]: Solastalgie“
Liebe Johanna Di Blasi,
dieser Beitrag spricht mich sehr an. Ob es möglich wäre, diese Gedanken etwa in der Theolounge näher zu entfalten? Mich würde es sehr freuen. Zumal die Bücher von Glenn Albrecht (nach meiner oberflächlichen Recherche) nicht auf Deutsch verfügbar sind. Danke auf jeden Fall für diesen Beitrag und herzliche Grüße aus Siegen!