Es gibt Menschen, die kenne ich seit Jahren und trotzdem reden wir kein Wort miteinander: meine sogenannten Sichtbekannten.
Dieses Wort habe ich mit ChatGPT geschaffen. Mit Nachbarinnen teilt man sich die Verwaltung, handelt (vielleicht) Kleinkriege am Veloständer und in der Waschküche aus oder passt gegenseitig auf Blumen und Büsis auf. Man grüsst sich, wenn man sich begegnet und hält einen kurzen Schwatz.
Sichtbekanntschaften dagegen kennt man einzig vom Sehen, weil man sich gegenseitig in die Wohnung blicken kann.
Bequeme Distanz
Man beobachtet sich vom Fenster oder vom Balkon aus und lernt so die Gewohnheiten des Gegenübers kennen. Deshalb kennt, ja erkennt man sich, wenn man im Quartier-Coop aufeinandertrifft. Allerdings bleibt es bei einer rein visuellen Bekanntschaft und das ist auch gut so. Schliesslich besagt das eiserne Gesetz der Sichtbekanntschaft, dass die Grenze von Intimität damit bereits erreicht ist, dass man sich ungeduscht im Pyjama rumlaufen sieht und die echten, ungeschönten Tagesabläufe mitbekommt.
Sollten diese Menschen Namen und Stimmen bekommen, würde man plötzlich anfangen, sich zu viele Gedanken zu machen, was sie von einem halten. Sehr unpraktisch fürs eigene Wohlbefinden.
Weak Ties
Wie wichtig diese losen sozialen Beziehungen sind, hat der Soziologie Mark Granovetter herausgefunden: Er unterschied 1973 zum ersten Mal zwischen «weak ties» und «strong ties». Starke Bindungen können diejenigen zu Familie, Freund*innen, engen Arbeitskolleg*innen oder Partner*innen sein.
Schwache Bindungen beschreibt das weitere soziale Umfeld: Bekanntschaften im Sportverein, Kolleg*innen auf der Arbeit oder eben Nachbar*innen. Normalerweise stehen sie uns nicht besonders nahe. Trotzdem sind sie für unser Wohlbefinden enorm wichtig.
Sie geben uns das Gefühl, dass wir eingebunden sind in ein grösseres sozialen Netz.
Ich finde diese Theorie sehr treffend. Denn obwohl ich keine Ahnung habe, wie meine Sichtbekanntschaften heissen und ob sie Kuhmilch, Hafermilch oder Dinkelmilch trinken, ja ob sie überhaupt irgendeine Milch trinken, sind sie ein wesentlicher Bestandteil meines Alltags.
Liebgewonnene Rituale
Die wichtigste Sichtbekanntschaft hatte ich bis vor kurzem mit den Studi-WGs gegenüber. Vor knapp drei Jahren erhielt das hellgelbe Mietshaus nämlich auf einen Schlag komplett neue Mieter*innen. Meine Vermutung war, dass die Besitzerin des Hauses das Haus abreissen wollte und neue, befristete Verträge ausgestellt hatte.
Die Studis belebten das Sichtfeld meiner Wohnung sofort: Die WG im ersten Stock hängte solarbetriebene Lichterketten über die Balkontüre. Die Frauen-WG im zweiten Stock stellte einen Sonnenschirm auf und trocknete Blumen. Und die Jungs im Dachgeschoss rauchten auf dem Balkon und versuchten relativ erfolgsfrei, Tomaten und Hanfpflanzen zu züchten.
Bald kannte ich ihre Rituale: Wenn ich samstagmorgens aus dem Fenster blickte, erkannte ich relativ schnell, ob die Dachgeschoss-Jungs mal wieder Party gemacht hatten. Und mit der Frauen-WG teilte ich einen synchron desorganisierten Wäscherhythmus.
Hallo, ist da wer?
Innerlich ging ich davon aus, dass alles so bleiben würde. Ich hatte mich an die Menschen und ihr liebevolles, verpeiltes Chaos gewöhnt. Wir passten zueinander. Bis alles ganz schnell ging und eines schönen Wochenendes die erste WG auszog und in den Tagen darauf alle anderen.
Am Donnerstagabend leuchtete kein einziges Licht mehr in meine Richtung.
Mit dem leeren Haus fühlte es sich an, als wäre ein essenzieller Bestandteil meines Alltags verschwunden. Niemand mehr, der zu genauso unvernünftigen Zeiten Licht brennen hatte, abends lautstark bei Rotwein mit Freunden diskutierte oder die nächste krasse WG-Party plante.
Keine Lichterketten, Trockenblumen oder Hanfprojekte mehr.
Wenn ich beim Wäschefalten hinüberblickte, sah ich die Stadtpolizei bei Übungen. Sie nutzte das Gebäude übergangsweise und liess die Rollläden herunter.
Abschied von Sichtbekannten
Ich überlegte, ein Abschiedsfoto zu machen. Beim Durchsuchen alter Fotos hatte ich festgestellt, dass das Haus so selbstverständlich zu meinem Leben gehört hatte, dass ich es nicht ein einziges Mal bewusst fotografiert hatte. Links oder rechts davon hatte ich den Himmel, die blühenden Bäume oder die verschneiten Strassen festgehalten. Die Mitte dazwischen war unfotografiert geblieben.
Doch inzwischen wollte ich nicht mehr.
Damals hätte es sich komisch angefühlt, vertraute Menschen zu fotografieren. Jetzt fühlte sich das Haus seltsam leblos an. Ich beobachtete, wie die Polizei ging, wie eine Gartenfirma sämtliche Büsche und Bäume um das Haus rodete, auch den riesigen Baum, der das Dach um einige Meter überragt hatte.
Ein weiterer Sichtbekannter, der an einem einzigen Tag verschwand.
Jetzt warte ich darauf, dass das Haus abgerissen wird und ein moderner, rechteckiger und vermutlich seelenloser Neubau das hellgelbe Haus im bürgerlichen Bauhausstil der 1930er-Jahre ersetzt. Aber immerhin: Vielleicht bekomme ich dann endlich wieder Sichtbekannte. Ich zweifle zwar noch etwas, ob sie so lustig sind wie die davor.
Foto von Christian Lue auf Unsplash