Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 7 Minuten

Liebe Ehefrau des Ehebrechers

Wir wissen nicht einmal, wie du heisst. Wir erfahren nur, dass in aller Öffentlichkeit sichtbar wird, wie es um deine Ehe steht. Dein Mann hat sich auf eine andere Frau eingelassen und ist dir untreu geworden. Also ich würde das aus meiner Perspektive sagen. Denn zu deiner Zeit galt ein anderes Rechtsverständnis. Deshalb kommen weder du noch dein Mann direkt im neutestamentlichen Text vor.

Unterschiedliche Rechtsverständnisse

Soweit ich weiss, konnte im damaligen Rechtsverständnis nur eine Frau ihre eigene Ehe brechen. Ein Mann konnte durch Untreue nur eine fremde Ehe, nicht aber die eigene brechen. Aus diesem Grund erklärt sich möglicherweise, weshalb im biblischen Text dein Mann nicht auftaucht, sondern nur die Frau, mit der er verkehrte. Sie soll zur Verantwortung gezogen werden, soll gesteinigt werden. Dein Mann hat, rein rechtlich gesehen, in Bezug auf dich und auf eure Ehe nichts falsch gemacht. Er hat sich nur bei dem Mann schuldig gemacht, dessen Ehe er brach, indem er mit seiner Frau Sex hatte. Wäre sie eine unverheiratete Prostituierte gewesen, wäre alles in bester Ordnung gewesen.

Für mich ist das mehr als seltsam. Ich bin der Meinung, dass Ehebruch von beiden Seiten begangen werden kann. Wie stellst du dir das wohl vor? Wie wäre es dir ergangen, wenn du gewusst hättest, dass dein Mann ebenfalls Verantwortung zu tragen hat? Hättest du das als Genugtuung empfunden? Oder hättest du dir Sorgen gemacht, was mit dir und deiner Familie geschieht, wenn das männliche Oberhaupt fehlt, und die damit verbundene soziale Sicherheit sowie die gesellschaftliche Anerkennung?

Diese Rechte sollen bereits besser sein?

Allerdings habe ich mir sagen lassen, dass die rechtliche Stellung der Frau schon um einiges besser war, wenn sie als Besitztum ihres Manns galt, weil sie dadurch überhaupt einen geregelten Status hatte. Mir persönlich dreht sich dabei der Magen um:

Wie gilt eine Gruppe Menschen aufgrund ihres Geschlechts als vollwertig und eine weitere erhält – ebenfalls aufgrund ihres Geschlechts – lediglich den Status «Besitzgut», über das verfügt werden darf ?

Wenn du wüsstest, wie sehr wir noch heute mit diesen Fragen ringen! Das Eherecht in der Schweiz wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts revidiert. Doch noch brennender sind die Fragen, die uns deine Geschichte bis heute vors Gesicht hält: Wo beginnt Untreue? Zeigt sie sich nur physisch oder beginnt sie bereits da, wo wir innerhalb unserer Beziehungen emotional über fremde Personen fantasieren? Uns emotional intensiv auf sie einlassen, obwohl physisch nichts geschieht?

Ich habe keine Antworten. Aber mich würde interessieren, wie das für dich war. War es normal, dass Ehemänner Prostituierte aufsuchten? Was war mit weiblichem Begehren, weiblicher Lust? Gab es das nicht? Waren Frauen kollektiv so erschöpft, dass sie keine Lust auf Sex hatten? Ich kann mir das nicht vorstellen.

Eine freche Frage

Ich wage eine frechere Interpretation: Könnte es sein, dass  manche Ehemänner dermassen schlecht darin waren, die sexuellen Bedürfnisse ihrer Ehefrauen wahrzunehmen, dass Frauen keine Lust darauf hatten? Dass nur Prostituierte, die dafür bezahlt wurden, Sex duldeten, bei dem sich alles um männliche Lust drehte? Entschuldige, wenn diese Fragen so privat sind. Wir kennen uns ja kaum. Aber ich bin es leid, dass Frauen ständig als diejenigen dargestellt werden, die dem Mann nicht geben, was er braucht, oder dass Frauen «das Problem» sind, wenn Untreue geschieht.

Ja, selbstverständlich darf man nicht alles verallgemeinern. Männer sind nicht per se egozentrische Sexsüchtige, die alles aufgeben für einen schnellen Kick. Aber genauso wenig sind Frauen per se Sex gegenüber kritisch oder unwillig eingestellt. Vom weiten Geschlechterspektrum oder den vielfältigen sexuellen Orientierungen, die heute gelebt werden können, haben wir ja noch nicht einmal gesprochen.

Ich stelle mir deine Situation damals mehr als unangenehm vor. Es reicht ja, mit der Untreue des allernächsten Gegenübers klarkommen zu müssen. Darüber hinaus von einer Öffentlichkeit beobachtet zu werden, würde mir persönlich sehr viele Schamgefühle bescheren.

Wer gibt schon gerne zu, dass die eigene Beziehung nicht läuft?

Aber das sind die Interpretationen einer Frau aus dem Heute. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für dich «normal» war, dass Ehe nicht so monogam gelebt wurde, wie es heute idealisiert wird. Denn selbst heute ist das kaum ein lang anhaltender Dauerzustand. Untreue ist auch heute an der Tagesordnung. Oft wird gesagt, die Lebenserwartung sei zu hoch, als dass man ein Leben lang mit derselben Person verbringen könne. Und es stimmt: Historisch gesehen ist es ungewöhnlich, dass Menschen 50 Jahre miteinander zusammenleben. Zu deiner Zeit war man schätzungsweise maximal 20 Jahre verheiratet. Diese Zeithorizonte unterscheiden sich sehr voneinander.

Mitgefühl mit dir – und auch mit der Ehebrecherin

Und trotzdem: Untreue ist und bleibt einfach scheisse. Meine Meinung. Egal ob damals oder heute. Es macht mich traurig, wie sehr Kommunikation versagen kann. Wie sehr wir Menschen es nicht hinbringen, mit unseren Nächsten darüber zu reden, was wirklich los ist, wie es uns in unseren Beziehungen geht und was wir uns wünschen. Du bist also nicht alleine.

Vielleicht ist das ein Trost für dich: Du bist bei weitem nicht die Einzige, der das zugefügt wurde. Ich weiss nicht, ob es dich besser fühlen lässt, dass Partner:innen sich gegenseitig bis heute betrügen. Leider. Ich hoffe du weisst, dass du nichts falsch gemacht hast, dass dir das geschehen ist. Niemand hat so etwas verdient. Und wir Menschen – egal welchen Geschlechts – wissen umgekehrt dank deiner Geschichte, dass es so richtig schief gehen kann. Dass sich die eigene Lebenswelt plötzlich sehr viel wackliger und unsicher anfühlen kann – gänzlich unverdient.

Wir wissen nicht, wie deine persönliche Geschichte geendet hat. Die biblische endet mit dem Freispruch der Ehebrecherin. Aus feministischer Perspektive begrüsse ich es, wie Jesus eine Frau nicht strenger behandelt als Männer und religiöse Würdenträger. Als Mensch berührt es mich emotional, dass Jesus ein Weltbild entwirft, in dem wir Menschen einander Raum für Fehler einräumen und andere nicht strenger als uns selbst bemessen sollen.

Doch das sagt sich leicht, wenn man nicht diejenige Person ist, die durch die Fehler anderer unter die Räder gerät. Für dich war das vermutlich nicht einfach. Die Frau, mit der dein Mann fremdgegangen ist, durfte weiter in ihrer Gemeinschaft leben – vielleicht bei ihrem eigenen Ehemann, vielleicht wurde sie auch verstossen. Wir wissen es nicht.

Kein Mensch sollte aus finanziellen Gründen in einer schlechten Beziehung bleiben

Ich wünschte, ich wüsste, wie du und dein Mann danach zusammengelebt habt. Ich gehe davon aus, dass es aus sozioökonomischen Gründen keine gute Idee war, dich scheiden zu lassen, respektive, dass du keine rechtliche Grundlage dazu hattest. Wenn nur die Frau innerhalb ihrer eigenen Ehe untreu werden kann, gibt es für den Mann keinen Anlass, sich scheiden zu lassen, wenn er mit einer anderen Frau Sex hatte. Nach jüdisch-rabbinischem Recht muss ohnehin der Mann der Frau den Scheidebrief aushändigen, damit die Scheidung rechtsgültig wird.

Eigenständig entscheiden, was du wolltest, konntest du gar nicht. Das tut mir weh. Denn kein Mensch sollte aus finanziellen Gründen in einer Beziehung bleiben, in der man sich gegenseitig nicht gut behandelt und wertschätzt. Aber auch das ist noch heute ein ungelöstes Problem, dass Menschen – und insbesondere Frauen – verheiratet bleiben, um der Altersarmut zu entkommen.

Liebe Ehefrau des Ehebrechers: Du kommst auf keiner Seite der Bibel namentlich vor. Deine Existenz wird nicht explizit erwähnt. Aber du warst da und du bringst mich und hoffentlich uns zum Nachdenken. Viele Fragen bleiben offen. Ich hoffe, dass sie helfen, uns unseren heutigen Fragen zu stellen. Wieder und wieder und immer wieder.

Alles Liebe

Fabienne

Wer die Geschichte der Ehebrecherin und ihre Begegnung mit Jesus nachlesen möchte, findet sie in Johannes 8, 1-11.

In dieser Serie schreiben wir Briefe an Frauen aus der Bibel, der erste ging an die Königin Vashti, der zweite an Zippora, der dritte ging an Martha und der vierte ging an Sara. Inspiriert ist dieser Blick von afroamerikanischer Bibelauslegung: Dort wird die sogenannte «geheiligte Vorstellung» («sanctified imagination») praktiziert. In einer geheiligten Vorstellung erarbeitet eine Person, wie eine biblische Geschichte hätte beginnen können, wie sie möglicherweise weiterging oder macht sich Gedanken zum Kontext, in dem diese Geschichte stattfand. Afroamerikanische und insbesondere womanistische (schwarzfeministische) Bibelexegese, wie sie beispielsweise die Judaistik-Professorin Wilda Gafney praktiziert, ist dabei intersektional angelegt und von den spezifischen Lebensbedingungen von BIPOCs geprägt. Es wird ein besonderes Augenmerk auf unterschiedliche Handlungsfähigkeiten, soziale Ungleichbehandlungen, Unterdrückungsformen, Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen gelegt. Diesen Aspekten können wir weissen Autorinnen natürlich nicht genügend Rechnung tragen. Wir geben jedoch unser Möglichstes, die feinen Nuancen eines biblischen Textes herauszuarbeiten und den Lebensumständen und -bedingungen der jeweiligen Frauen gerecht zu werden.

Illustration: Rodja Galli

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