Der Entertainer Harald Schmidt hat Hannover einmal so charakterisiert: «Hannover ist die Stadt mit dem gewissen nichts.» Natürlich stimmt das und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich kann das beurteilen, weil ich selbst mehrere Jahre dort gelebt habe.
Wenn ich nun höre, dass junge Leute, Klimaschützer:innen, trotz des bevorstehenden eisigen norddeutschen Winters ihr Klimacamp in Hannover aufrechterhalten möchten, erinnert mich das an die lange Widerstandstradition in der Stadt. Hannover wurde im 19. und 20. Jahrhundert von Gerechtigkeitskämpfen der politischen Arbeiterschaft geprägt, über die ich als Lokaljournalistin Berichte geschrieben habe.
Kinder in der Kälte
Ausser mit kalten Temperaturen haben die Klimaaktivist:innen, viele davon im Kinderalter, mit Gegenwind aus der Bürgerschaft zu kämpfen, unter anderem von Leuten, die die christliche Feiertagsruhe durch Banner der Klimagerechtigkeitsbewegung gestört sehen.
Offizielle Unterstützung durch die Kirchen für ein Wintercamp haben die «Fridays for Future»-Kämpfer:innen in Hannover bisher keine erhalten, jedoch Hilfe von einzelnen engagierten Christinnen und Christen.
Einer der sich beherzt für Klimaschutz und auch Klimacamper einsetzt, ist der Theologe Jürgen Manemann. Er ist Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover und aktives Mitglied bei den für Aktionen zivilen Ungehorsams berühmt-berüchtigten «Extinction Rebellion». Das FIPH ist ein katholischer Thinktank in der evangelischen Hochburg Hannover, wo die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihr Headquarter hat.
Manemann gehört zu den eindringlichsten christlichen Stimmen, die vor dem Hintergrund des apokalyptischen Szenarios einer ungebremsten Klimaerwärmung zur radikalen umweltpolitischen Umkehr mahnen. Im transcript-Verlag ist nun «Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer» von ihm erschienen.
Nicht zu fassen!
In seinem Buch versucht Manemann aufzuzeigen, wie wir den übergrossen Gefahren, die unser Fassungsvermögen weit übersteigen und uns mutlos, niedergeschlagen und traurig machen, dennoch konstruktiv begegnen können. In einem Podcast-Gespräch in unserer Reihe «TheoLounge» erklärt uns der Autor, wie das gehen soll (Veröffentlichung des Gesprächs am Samstag, 30. Oktober bei RefLab).
Vor dem Hintergrund der Verschränkung von ökologisch-klimatischer Katastrophe, Demokratie- und Coronakrise sieht der Philosoph und Theologe die bislang nach seiner Wahrnehmung eher mutlosen Kirchen in einer besonderen Verantwortung. Hierfür müssten sie allerdings an zwei vernachlässigte christliche Traditionen anknüpfen: Die Apokalypse, also das Denken und Bewerten der Gegenwart vom Ende der Welt her, und das Revolutionäre.
Der Autor macht sich stark für eine christliche «Revolution für das Leben».
Den Ausdruck entlehnt er von der Philosophin Eva von Redecker, die ein gleichnamiges Buch geschrieben hat. Ein Anfang wäre laut Manemann, «die Ausrufung des Klimanotstandes in der Kirche unter der Maßgabe, dass die Kirche in den kommenden fünf bis zehn Jahren CO2-negativ sein will.»
«An der Zeit wäre eine kairós-empfindliche Kirche, die gegen das Aussterben ankämpfte, indem sie die Gelegenheit ergriffe, die ‹Revolution für das Leben› endlich mit voranzutreiben.» Hierfür sei es notwendig, als Erstes die Unfähigkeit zu trauern zu überwinden.
Aufstehen für eine neue Welt
Die christliche Auferstehungshoffnung beinhalte die Weigerung, den Tod anderer einfach zu akzeptieren. Hier sei anzusetzen, «da es keine christliche Hoffnung ohne Revolte gibt». Hoffen auf Auferstehung heisst für den Autor Aufstehen für eine neue Welt.
In der Kirche werde der Blick auf christliche Radikalität aber oft «durch das Pathos existentieller Radikalität» vernebelt, welches den christlichen Glauben in seiner politischen Dimension still stelle.
Die anstehende Revolution unterscheidet sich von früheren Revolutionen dadurch, dass sie eine Revolution nicht der Veränderung ist, sondern der Bewahrung! Eine konservative Revolution, könnt man meinen, aber Nein: eher eine konservierende Revolution. Sie erhält die Möglichkeiten des Lebens für menschliche und anders-als-menschliche Lebewesen.
«Müssten Christ*innen sich nicht in der Mitte dieser Revolution wie zu Hause fühlen? JHWH ist schließlich eine revolutionäre Gottheit, die ein Leben in stetiger persönlicher und politischer Umkehr verlangt. G-tt ist eine Schöpfergottheit, die Menschen ins Leben ruft und sie zum Dienst für die Bewahrung des Lebens beruft. Der Sturz der Mächtigen gehört zu ihrem Markenzeichen.»
Der Autor unterstützt unter anderem Bestrebungen, Ökozid als Menschenrechtsverbrechen einzustufen. Hiermit könnte gegen Umweltsünder unter Konzernen entschiedener vorgegangen werden. Und er fordert christliche Kirchen auf, über Konfessionsgrenzen hinaus, so wie es bereits in der Flüchtlingshilfe geschieht, auch die Erderwärmungskatastrophe viel stärker zu ihrem Anliegen zu machen, als es bislang geschieht.
«Jede*r von uns weiß, dass wir* in den kommenden Jahrzehnten auf eine 2-5 Grad Celsius Erwärmung der Erde zusteuern. Es sei denn, wir* würden unsere Gesellschaft in den nächsten 5 bis 10 Jahren radikal verändern.»
Dem Autor schwebt statt Lippenbekenntnisse ein neues christliches Bekenntnis vor. Eine »Revolution für das Leben« gebe es nicht ohne die Bereitschaft zum Widerstand. Die Erhitzungskatastrophe stelle einen status confessionis dar, eine Bekenntnissituation, »in der um des Bekenntnisses zu Christus willen für den Christen nur eine einzige inhaltliche Positionierung möglich ist.«
Radikales Christsein heute
Zur radikalen Christlichkeit des 21. Jahrhunderts gehört für den Philosophen und Theologen auch die Bereitschaft zu gewaltfreiem zivilem Ungehorsam. Im Kirchenasyl sei dies vorgebildet. Ziviler Ungehorsam stelle nicht die Rechtsordnung als Ganze infrage, sondern stehe für die Einhaltung derselben durch einen partikularen gesetzlichen Regelbruch. Hier hört man den engagierten und die Konfrontation nicht scheuenden Extinction Rebellion argumentieren. Dass der Autor zugleich Hochschulprofessor ist und Leiter eines renommierten christlichen Forschungsinstituts, verleiht seiner Stimme besonderes Gewicht.
«Revolutionäres Christentum» ist Pflichtlektüre und Leitfaden für alle Christ:innen, die sich von der globalen Klimaüberhitzung und vom sechsten Massenaussterben im Innersten aufwühlen lassen – und die es nicht bei einem resignierten Hinnehmen der Katastrophe bewenden lassen wollen.
Das Buch: Jürgen Manemann, «Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer», Bielefeld: transcript 2021.
Schlüsselsätze aus «Revolutionäres Christentum»:
«Die Kirche hätte den Mut aufzubringen, die eigene Blindheit gegenüber dem Aussterben anzuerkennen.»
«Die Institution Kirche darf ihre Hoffnung nicht verwalten. Sie muss sie einlösen.»
«Für ein revolutionäres Christentum ist Trauer die fundamentale Widerstandskategorie.»
«Wer heute über christliche Hoffnung spricht, darf von der Zukunftsmüdigkeit der Christ*innen nicht schweigen.»
«Wir* scheinen unfähig, uns eine andere als die bürgerlich-kapitalistische Zukunft vorzustellen.»
«Der Exodus ist nicht Vergangenheit, sondern als Erinnerung permanenter Aufruf zum Auszug aus neuen Gefangenschaften in bessere Welten. Der Exodus steht für eine Macht jenseits der staatlichen Macht: G-ttesmacht.»
«Die christliche Auferstehungshoffnung beinhaltet die Weigerung, den Tod anderer einfach zu akzeptieren. Hier ist anzusetzen, da es keine christliche Hoffnung ohne Revolte gibt.»
«Die Kirche lässt die Aktivist*innen im Pfefferregen stehen. Sie kümmert sich in der Seelsorge um Polizist*innen, aber sie kümmert sich zu wenig bis gar nicht um Aktivist*innen.»
«Es gilt, Angst zuzulassen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie lähmen kann.»
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6 Gedanken zu „Klimanotstand der Kirche ausrufen!“
“eher mutlos” ist noch eine milde Möglichkeit, das Engagement der Kirchen für den Klimanotstand zu umschreiben. Natürlich freue ich mich bei jeder Aktion, die in den Kirchen geschieht: In der Johanneskirche in Bern durften Klimaaktivisten letztes Jahr Herberge finden, nachdem sie andernorts weggeschickt wurden. Und jetzt finde ich in derselben Kirche wieder ein tolles Engagement für das Klima: Ein Theater mit vielen Jugendlichen mit dem Titel “Weil die Welt brennt” (Greta Thunberg).
Aber sonst ist es wirklich so wie oben beschrieben: bürgerlicher Ärger über die störenden Klimaaktivisten. zB als eine Bekannte von mir Zettel verteilte vor einem Gottesdienst.
Ein dringend notwendiger Aufruf. Wir müssen aufhören, bloss an Kirche zu denken und nichtkirchliche Menschen, nonbinäre und nicht in ein Bedürftigenschema passende Menschen, aber auch Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen auszublenden. Menschen, ja Lebewesen überhaupt können nur leben im Miteinander. Dieses Miteinander muss in den Fokus von Handeln und Denken und wird so hoffentlich tragfähige Vertrauensbasis für zukunftsträchtige lebendige Vielfalt.
Das Buch bitte nicht nur lesen, sondern auch tastend umsetzen, nicht als Revolution gegen wasweissich, sondern Revolution für das Leben.
<3
Danke für Eure aufmerksamen Kommentare! Es gibt mehr Schnittstellen zwischen Kirchen und Klimagerechtigkeitsbewegungen als viele bislang denken. Im kommenden Kirchentag im Kloster Kappel https://www.zhref.ch/kirchentagung wollen wir uns dem Thema schwerpunktmässig widmen sowie mit Umweltaktivist:innen austauschen und enger vernetzen. Der programmatische Titel: “Nach uns die Schöpfung!”
Darf ich die sehr geschätzten, aber etwas Zürich-lastigen RefLaborant*innen auch um einen Blick nach Bern bitten, wo seit Jahrzehnten die herbstlichen OeME-Tagungen oft Dinge aufgegriffen haben, die noch nicht kirchlicher Mainstream waren. So u.a. auch nächste Woche (6. Nov.) genau zur angesprochenen Thematik: “Sorge für das gemeinsame Haus – Churches 4future” (https://www.refbejuso.ch/index.php?id=1476)
Vielen Dank für diesen Aufruf. Eine fundierte Position. Ohne die Bereitschaft breiter Kreise, die Komfortzone hinter sich zu lassen, wird sich nichts bewegen.