Die Lichter der Weihnachtsdekorationen in den Geschäftsstrassen spiegeln sich in Regenpfützen. Ich habe meinen Rucksack am Hauptbahnhof verstaut und mache mich auf zu Ecstatic Dance im Offenen St. Jakob, einer reformierten Citykirche in Zürich.
Es ist eine Erkundungsreise, keine Ahnung, worauf ich mich einlasse.
Ich will da rein!
Ein Mann in meinem Alter, grauer Bürstenschnitt, ist mit dem Rad gekommen und im Regen nass geworden. Er steht am Empfang und kann es nicht fassen, dass es keine Restkarte für ihn gibt. «Führen sie keine Warteliste?». Nein, die Veranstaltung sei restlos ausverkauft, er könne beim nächsten Mal dabei sein.
Der Mann bleibt beharrlich. Er will in die Kirche, unbedingt.
Um den Zustrom an Interessierten brauchen sich die Veranstalter keine Sorgen machen. Das Interesse ist gross, und es werden mehr. Auch diesmal sind wieder mehr als ein Dutzend Novizen zu dem Tanzevent gekommen.
Keine kirchliche Nutzung
Ecstatic Dance boomt: in Amsterdam, Berlin, San Francisco, auf Ibiza und auch in der Schweiz. DJs kommen aus dem Berghain und anderen namhaften internationalen Clubs.
Seit den Restriktionen der Pandemiejahre ist der Wert von Live-Veranstaltungen noch deutlicher geworden.
Die Veranstalter mieten die Offene Kirche St. Jakob für ihre Raves. Eine Nutzung, so erfahre ich von den Hausherren, die kultureller Natur sei und mit Kirche, abgesehen von den Räumlichkeiten, nichts zu tun habe.
Barfuss oder mit rutschfesten Söckchen treten wir in den Kirchenraum ein. Am Eingang begrüsst uns ein junges Paar mit einer Kerze und einem Duft. «Ist das Palo Santo?», frage ich im Flüsterton. Antwort bekomme ich auf Englisch:
«No, sage wood and lavender, local production, from Switzerland».
Salbeiholz und Lavendel
Farbige Spotlights auf Kapitellen setzen im dämmrigen Kirchenschiff mystische Akzente. Der Raum ist von Bestuhlung weitgehend freigeräumt. Der warme Eichenboden scheint wie gemacht für die Berührung mit Fussballen und Zehen. Oder auch zum Liegen, Strecken, sich Räkeln.
«Wow, what a room! Look around!”, sagt eine junge Frau, die Headsets trägt und das Warm-up anleitet.
«Und in diesem herrlichen Raum, inmitten Zürichs, dürften wir dasein. Einfach dasein. Was für ein Geschenk.»
Und wie still es in dem Raum sei, «wonderful».
Wow, what a room
Auf dem steinernen Altartisch hat der DJ bereits seinen Laptop aufgestellt und das Mischpult aufgebaut.
Die Töne, die uns von der Stille in die Tanznacht hineinführen aber kommen erst einmal von einem live gespielten Cello, einer sanft gezupften Gitarre und Glockenspielen.
Die Bewegungen im Ecstatic Dance sind vollkommen frei.
«It’s an open space», erklärt die Zeremonienleiterin.
Ein paar Regeln aber gäbe es doch, fügt sie lächelnd hinzu. Alles geschieht einvernehmlich, im Konsens; jeder sucht sich seinen Raum und respektiert Räume der anderen; und es herrscht vollkommenes Schweigen.
«We don’t talk. Not at all!”
No talk
Die kurze Einführung ist vorbei. Nun füllt sich der Raum mit wechselnden Klangatmosphären, die fast unmerklich ineinander übergehen. Der Electrosound schwillt kontinuierlich an, nimmt an Variantenreichtum und Intensität zu.
Stampfender Technobeat wie aus Maschinenhallen ist auch dabei, aber umspielt von meditativen Elementen mit indischen und asiatischen Anklängen.
Auf dem Höhepunkt ist es wie bei einem Gewitter.
Der DJ oder «music curator», wie es im Ecstatic Dance heisst, ist verantwortlich für eine dynamische Gestaltung, die sich auf der Tanzfläche in Bewegungen, Energien und Emotionen widerspiegelt.
Mir kommt Haute Cuisine in den Sinn. Es ist wie bei fein aufeinander abgestimmten Menüs, wo Geschmacksnuancen sowohl harmonieren als auch kontrastieren. Und nach einer Klimax ein feines Dessert serviert wird.
Ekstase ohne Drogen
Ekstase ohne Drogen: Darum geht es in der Regel bei Ecstatic-Dance-Events. Rauschmomente ergeben sich aus dem Grad der eigenen Freiheit und der Verbindung mit anderen, der gemeinschaftlichen Erfahrung.
Voraussetzung ist ein Safe Space, in dem nicht gewertet und geurteilt wird.
(Hier ein Link zu einem Event in Amsterdam und hier eine kurze Dokumentation aus Koh Phangan.)
Wenn nur noch Tanz ist und keine Tänzer mehr, sei der ultimative Moment der Meditation erreicht, die Freiheit vom «Ego», heisst es, oder auch:
«The tribe creates the vibe and the vibe creates the tribe.»
Wenn man loslasse, öffneten sich «gateways», deren Vorhandensein man zuvor nicht erahnt habe.
We are free
Viele Junge, aber auch Ältere lassen sich auf das Experiment ein. Eine Schwangere tanzt an mir vorüber. Auch eine junge Frau im Rollstuhl ist gekommen. Viele haben ein befreites Lächeln im Gesicht.
Schwerelosigkeit beschränkt sich nicht auf die Körper.
Ich bekomme an dem Abend immerhin einen kleinen Vorgeschmack und gewinne Gefallen daran, den Raum um mich herum zu fühlen und die Schwingungen der anderen aufzunehmen.
Süsslicher Schweissgeruch liegt jetzt im Kirchenschiff. Wir sind, unleugbar, nicht nur Geist.
Vor dem Altar ist im Verlauf des Abends ein Lichtermeer gewachsen.
Raum für Prayer
«Ihr dürft Kerzen anzünden und mit einem Wunsch oder einem Gebet verbinden, ganz wie ihr mögt. You are free», hatte die Zeremonienmeisterin zu Beginn der Veranstaltung gesagt. Viele sind der Aufforderung gefolgt.
Der DJ ist weiss gekleidet. Er hat lange gelockte Haare und Bart.
Habe ich zu viele Jesusfilme geschaut oder bin ich zu sehr in Trance geraten, wenn er mich an IHN erinnert, an Jesus?
Kerzen, eine Vase mit frischen weissen Blumen, ein Kristall, ein Tuch mit einer Buddhafigur: Die Symbolik an dem Abend ist gemixt wie die Musik.
Ich erhalte einen lebhaften Eindruck von postsäkularer Spiritualität. Das ist eine Spiritualität, die frei auch insofern ist, als sie unbekümmert auch mit religiösen Zeichen spielen kann.
Postsäkulare Spiritualität
Peter Sloterdijk hat im ersten Teil seiner «Sphären»-Trilogie Kritik geübt an einem Subjekt, «das alles beobachtet, benennt, besitzt, ohne sich von etwas enthalten, ernennen, besitzen zu lassen». Aus dem Geist kommunitaristischer Grunderfahrungen könne es aber wieder zu spontanen Annäherungen an religiöse Erfahrungen, auch an christliche kommen:
«Spräche die Mystik mit einer moralischen Stimme, sie drückte sich in der Forderung aus: Erwärme dein Eigenleben bis über den Gefrierpunkt – und tu, was du willst.»
«Wenn die Seele taut, wer wollte zweifeln an ihrer Neigung und Eignung, mit anderen zu feiern und zu arbeiten?»
Um die Bedeutung dieser Einsicht zu ermessen, so Sloterdijk,
«werde es für den freien Geist von Vorteil sein, sich von dem antichristlichen Affekt der letzten Jahrhunderte wie von einer nicht länger nötigen Verkrampfung zu emanzipieren.»
Wenn die Seele taut …
Der Religionsphilosoph Ingolf Ulrich Dalferth weisst daraufhin, dass Säkularisierung so durchgreifend vollzogen sein kann, dass schliesslich die Unterscheidung von religiös und säkular «keinen Resonanzboden» mehr finde.
Jüngere, das wird mir an dem Ecstatic-Dance-Abend iin der Citykirche deutlich, brauchen sich heute nicht mehr von Religion abgrenzen, weil Abgrenzung eine Nähe voraussetzen würde, die gar nicht besteht.
Postreligiöse Spiritualität nimmt Versatzstücke aus Religionen, baut sie neu zusammen und passt sie Spiritualitätstrends an.
Nach dem holistic turn liegt der Schwerpunkt gegenwärtig wesentlich auf mind-body-Spiritualität, das heisst eine gesunde Balance wird höher gewichtet als, wie noch im New Age, spirituelle Erleuchtung.
Come closer
Zum Live-Chillout treten wieder die Musiker nach vorne. Weisse Klangschalen kommen jetzt zum Einsatz. Sie werden sanft gerührt und entsenden feine Vibrationen in den Raum und durch meinen Körper.
Die Sängerin und Gitarristin trägt das lange Haar offen und ein blaugrünes Gewand. Sie erinnert mich an Figuren aus der Hippie-Ära, aber unwillkürlich auch an Holy Mary. Vor allem als sie uns nach vorne bittet, «come closer».
Nun lagern wir vor dem Altar zu ihren Füssen. Der Gänsehautmoment ist für mich, als wir singen:
«I am sorry, please forgive me, I thank you and I love you …»
I am sorry
Es ist ein Meditationssong, der an die Hawaiianische Heart-Healing-Technik des Ho’Oponoono anknüpft.
Es geht um die Kraft der Vergebung, sich selbst und anderen, und darum, sich gemeinsam einzuschwingen auf die Frequenz der Liebe.
Kritiker:innen sehen Ecstatic Dance als Beispiel für «toxische Positivität» und postmoderne Pseudo-Esoterik, die oberflächlich bleibt und unrealistische Erwartungen weckt; etwa die Vorstellung, Glückszustände herbei- und Schmerz wegtanzen zu können.
Mir legt der Abend unerwartet Quellen der eigenen Tradition frei. Vergebungsbitten in christlichen Gottesdiensten etwa blieben für mich häufig formelhaft. Über den Umweg des Ecstatic Dance aber füllt sich das gemeinsame «I’m sorry» überraschend mit tiefer Bedeutung.
Erst als ich die Gemeinschaft wirklich fühlte, machte die gemeinsame Vergebungsbitte auf einmal Sinn.
Umwege zum Eigenen
Selbst Begriffe wie Transformation und Transzendenz – die im Ecstatic Dance geläufig sind, im Kontext von Theologie aber oft abstrakt klingen – füllen sich auf unmittelbare Weise mit Sinn, wenn man sich in der Bewegung mit der Musik und anderen verbindet. Und gemeinsam über Grenzen geht.
Vielleicht brauchen wir manchmal Umwege, um zu einem tieferen Verständnis des eigenen Erbes zu gelangen. Und zu freien, lebendigen Zugängen.
Anfang 2025 geht es in meinem Podcast TheoLounge weiter mit Formen intensiver Spiritualität, wozu man auch Ecstatic Dance zählen kann, und der Frage nach Anzeichen eines New Awakening.
Ecstatic Dance in der Kirche Offener St. Jakob. Hier geht’s zur Agenda.
RefDate – ein Date mit dir!
Hier geht’s zu RefDate, dem spirituellen Netzwerk der reformierten Landeskirche Zürich, mit rund 100 Veranstaltungen, von Gebet und Meditation über Singen und Tanzen bis zu Self Care und Heilung.
Ecstatic-Dance-Playlist, um einen Eindruck zu vermitteln
- Tarante Groove Machine – In The Night We Dance
- Rezo (Opening Icaro)
- Daniel Waples & Flavio Lopez – YANKADE
- Estas Tonne – Eagle’s Sight (feat. Joseph Pepe Danza)
- TRENZAS* – IntiChe (feat. Timpana)
- Amirya – Survival
- Sanja & Balkanika – Kermes (DJ Kobayashi Edit)
- Hevia – Barganaz (Martyn Zi Remix)
- Shpongle – Divine Moments Of Truth (Astrix, Loud & L.S.D. Remix)
- Porangui – «Stardust» (feat. Ashley Klein)