Vergangenen Donnerstag und Freitag feierten Jüdinnen und Juden das Neujahrsfest (Rosch ha-Schana). Und am kommenden Wochenende findet der höchste jüdische Feiertag statt: Jom Kippur, der Tag der Versöhnung.
Die Zeitspanne zwischen den beiden Tagen, welche als Zeit des Nachdenkens und der Vorbereitung auf die Versöhnung mit Gott und den Mitmenschen begangen wird, schliesst dieses Jahr den ersten Jahrestag der Hamas-Angriffe auf Israel ein. Das ist Zufall – die Feiertage richten sich nach dem Mondkalender und die Daten ändern von Jahr zu Jahr.
Ein Jahr, das die Welt verändert hat
Am 7. Oktober 2023 griff die Hamas Israel an. 1139 Jüdinnen und Juden wurden massakriert, 239 in den Gazastreifen entführt. Mehrere Tausend Menschen wurden verletzt, Dutzende vergewaltigt.
Seit dem Ende des Holocausts wurden an keinem Tag so viele Jüdinnen und Juden ermordet.
Israel reagierte mit der Erklärung, die Hamas auszurotten. Es begann ein Krieg, der die Terrororganisation bis heute massiv schwächte, im Gazastreifen jedoch auch zu Zehntausenden Toten und einer humanitären Krise führte.
Das vergangene Jahr hat die Welt verändert.
Das Ausmass des menschlichen Leidens, die wöchentlichen Nachrichten über neuerliche Angriffe und Raketen, Tote und Eskalationen, über Geiseln und Geflüchtete, machen traurig, verzweifelt und ratlos.
Ratlosigkeit angesichts des Leidens
Auch uns im RefLab erschüttern die Nachrichten wieder und wieder. Während wir nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine schnell zu Fragen, Diskussionen und Worten fanden (es entstand die Serie «Briefe zum Krieg»), empfinden wir die Lage im Nahen Osten als Überforderung.
Aufgrund der Komplexität des Konflikts waren wir sehr zurückhaltend mit Beiträgen dazu.
Es blieb bei wenigen redaktionellen Artikeln, darunter folgende:
- Was Antisemitismus überhaupt ist und inwiefern dabei auch das Christentum Selbstkritik zu üben hat, hat Thorsten Dietz in diesem Blogartikel eingeordnet.
- Evelyne Baumberger hat mit dem Artikel «Empathie verträgt kein ‘Aber’» auf die ersten Tage nach dem 7. Oktober 2023 reagiert und später mit «Erinnerung ist aktiv: Sie bedeutet Menschlichkeit und Rückgrat» den Slogan «Nie wieder ist jetzt» aufgegriffen.
- Und Sarah Staub beschreibt in ihrem Beitrag «Wellen im Osten» die Hilflosigkeit, die viele angesichts der schlimmen Nachrichten erfasste. (Schon 2022 schrieb Stephan Jütte zum Nahostkonflikt einen Artikel mit dem Titel «Neue Ratlosigkeit».)
Mit Menschen sprechen, die näher dran sind
Unser eigener Horizont ist begrenzt. Wo möglich, haben wir versucht, mit Menschen zu sprechen, die näher dran sind oder mehr über den Nahen Osten wissen. Es sind darum mehr Podcastfolgen als Artikel entstanden.
Sie sind auch jetzt noch hörenswert:
- Liliane Bernstein, Vorstandsmitglied der Israelitischen Gemeinde Basel, hat Manuel Schmid in dieser Podcastfolge einige Wochen nach dem Angriff erzählt, wie die öffentliche Stimmung gegenüber Jüdinnen und Juden in der Schweiz umgeschlagen hat (vgl. dazu auch der Antisemitismusbericht 2023).
- Dr. René Bloch, Professor für Judaistik an der Universität Bern, sprach mit Felix Reich über das laute Schweigen nach dem 7. Oktober, die Boykottaufrufe und Uni-Besetzungen: «Aktivismus und Antisemitismus».
- Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar hat ein Buch geschrieben, in dem er die Geschichte des Nahostkonflikts sowie dazugehörige Begriffe erklärt. Im Podcast «Draussen mit Claussen» geht er auch auf die Rolle der Religion ein.
- Schon im Sommer 2023 hat Tom Segev, Historiker und Journalist, von einem Pulverfass gesprochen. Hier geht’s zum «TheoLounge»-Beitrag, in dem er vor allem die innenpolitischen Konflikte analysiert: «In Israel kommen wir aus 100 Ländern und sprechen 70 Sprachen».
- Der Konflikt zwischen Menschen mit jüdischem und muslimischem Hintergrund im Nahen Osten spiegelt sich auch in Westeuropa. Johann Hinrich Claussen fragte den Berliner Imam Scharjil Ahmad Khalid, wie er mit jungen Muslim:innen über die Geschehnisse spricht – hier findet ihr das Gespräch.
- In den letzten Wochen verlagerte sich der Krieg in den Norden Israels und nach Libanon. Die Journalistin Karin A. Wenger ist immer wieder vor Ort und erzählte Felix Reich im Podcast «Stammtisch» von den Begegnungen beidseits der Grenze.
Empathie stärken, Konflikte im Kleinen lösen – und beten
Vielleicht geht es euch ähnlich wie uns, und ihr wisst manchmal nicht, wie umgehen mit all den Newsmeldungen. Dazu kommen das Wissen, dass diese Meldungen oft einseitig gefärbt sind, und der Druck, sich vermeintlich positionieren zu müssen.
Es wird gefordert, Sympathie für die eine oder andere Seite des Konflikts zu demonstrieren – mit Stickern auf dem Laptop, Teilnahme an Kundgebungen oder dem Reposten von Social-Media-Inhalten. Diesem Druck zu widerstehen, in Gut und Böse einzuteilen, kann in gewissen gesellschaftlichen Bubbles schwer sein.
Im Folgenden haben wir deswegen auch noch einige Inhalte gesammelt, die helfen sollen, mit der Weltsituation umzugehen. Die dazu beitragen wollen, Empathie zu stärken, Resilienz zu fördern und konstruktiv mit sich und den Mitmenschen umzugehen – auch bei politischer Uneinigkeit.
- «Was, wenn alles Scheisse ist?», fragt «Holy Embodied». In der verlinkten Podcastfolge geht es um den Umgang mit Leid und das Ja zum Leben in aller Zerrissenheit. Auch in der «I Feel You»-Folge mit dem Künstler Dario Cavadini geht es um Verletzlichkeit und darum, was hilft, mit Schwerem umzugehen.
- Die theologische Frage nach dem Leid in der Welt (das sogenannte «Theodizee-Problem») lässt uns nicht los – wir haben sie in vielen unterschiedlichen Beiträgen gestellt und auch philosophisch diskutiert.
- Den eigenen Körper zu spüren und im Moment zu sein, kann ebenfalls gut tun, um zwischendurch mal aus dem Strudel der Newsmeldungen rauszukommen. Hier eine geführte Meditation von Leela Sutter.
- Konfliktlösung beginnt im Kleinen. Dies zu fördern und zu trainieren ist das Anliegen der Empathie-Initiative, von der wir uns vor einer Weile im Podcast «Stammtisch» mit Sonja Wolfensberger unterhalten haben. Mehrere RefLab-Teammitglieder haben übrigens auch ihren Kurs in Empathie und Konfliktlösung, beruhend auf der Methode der Gewaltfreien Kommunikation, gemacht und als stärkend erlebt.
- Neu relevant wurde Martin Bubers Dialogphilosophie, die er vor 100 Jahren veröffentlichte: «Warum sind wir uns vergegnet?» (Artikel von Johanna Di Blasi).
- Und was ist mit Beten? «Gott erhört mein Gebet… Schön wär’s» ist ein «Geist.Zeit»-Gespräch dazu, «Böse beten» ein anderes, das möglicherweise hilft.
Wie geht’s dir damit?
Vielleicht erscheint es egoistisch, zu fragen, wie wir hier im sicheren Mitteleuropa mit der Weltsituation und unserer Trauer und Hilflosigkeit darüber umgehen sollen. Deswegen wollten wir mit diesem Beitrag beides tun: Ressourcen geben, um die eigene Resilienz zu stärken, und den Blick über den eigenen Horizont hinaus erweitern.
Was sind deine Gedanken und Gefühle dazu? Schreib uns gerne einen Kommentar.
Foto von Neal E. Johnson auf Unsplash
1 Gedanke zu „Ein Jahr, das die Welt veränderte“
Ja, fehlende Empathie ist möglicherweise die einzige Kriegsursache, schrieb unlängst der österreichische Friedensforscher Franz Jedlicka, der eine “Culture of Violence Scale” entwickelt hat, in der auch eine weit verbreitete Gewalt gegen Kinder berücksichtigt wird.
Ulrike