Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 7 Minuten

Immer mehr glauben an den Gott des Algorithmus

In der aktuellen Sci-Fi-Dramaserie «Mrs. Davis» nimmt eine Künstliche Intelligenz – eben Mrs. Davis – die Gottposition ein. Sie hat sich von ihrem Programmierer emanzipiert. Der Welt geht es mir ihr nicht einmal so schlecht. Im Gegenteil: Der Planet scheint weitgehend befriedet und prosperiert.

Per App können sich alle mit Mrs. Davis wie mit einer grossen Mutter verbinden.

Mrs. Davis weiss von allen alles und mehr noch: Sie kennt die Einzelnen besser als diese sich selbst, kennt ihre intimsten Bedürfnisse. Und kann daher prima Ratschläge erteilen. (Meine Kolleg:innen sprechen in «Popcorn Culture» über die Serie.)

Avatar am Altar

Ein Modell vielleicht auch für die Organisation von Religionsgemeinschaften? Ein digitaler Pfarrer- oder Imam-Avatar ersetzt fehlbare Wetware-Kollegen? Der Avatar kennt das Intimste der Einzelnen und zugleich das Bedürfnis aller. Die Gemeinschaft wächst zusammen wie nie zuvor.

Eine Gott-KI ist – nüchtern betrachtet – ein äusserst unwahrscheinliches Szenario. Eine allwissende App wäre zudem der Kollaps jeglicher privater und persönlicher (Daten-)Schutzsphäre.

Das Science-Fiction-Genre aber hat uns an die Idee gewöhnt, dass selbststeuernde Algorithmen durchaus die Macht übernehmen und die Welt regieren könnten.

Inzwischen sickert auch in die Alltagssprache mehr und mehr als Gedanke ein, dass wir es in der High-Tech-Gegenwart womöglich mit neuen Göttern und Schicksalsmächten zu tun haben. Dies lässt sich beispielsweise an der Aussage «Blessed by the algorithm» (BBtA, «vom Algorithmus gesegnet») in Sozialen Netzen ablesen.

Blessed by the algorithm

BBtA begegnet vielfach im Modus der Ironie. Auf TikTok bin ich auf ein Musikvideo mit der Liedzeile gestossen:

«I’ve been blessed by the algorithm god/ he knows me better than anyone alive/ If you give him praise/ algorithm will provide».

Social-Media-Arbeiter:innen erhoffen sich vom «Gott des Algorithmus» möglichst viel Sichtbarkeit, Likes und Herzchen. Der Gott des Algorithmus kennt dich besser als sonst jemand unter den Lebenden und wenn du ihn preist, sicherst du dir seine Gnade. Nachhelfen kannst du mit bezahlter Werbung, Influencer-Ads.

Algorithm of Life

Eine Influencerin, die für ihr Posting mit bauchfreiem Top posiert, geht in der «Anbetung» einen Schritt weiter. Sie lässt wissen: «I pray the alogorithm of life blesses me to connect to my soul tribe». Die junge Frau sieht beim «Algorithmus des Lebens» anscheinend eine ähnliche Logik am Werk wie bei Computernetzen.

Eine existenzielle Dimension nimmt BBtA auch bei einer weinenden Frau im Gothic-Look an, auf die ich ebenfalls beim Stöbern auf TikTok gestossen bin. Die verzweifelte junge Frau schickt folgende Zeilen in den dunklen Äther des Ich-weiss-nicht-wer-mich-da-draussen-überhaupt-wahrnimmt:

«I hope the algorithm finds you, but you can’t even begin to imagine how much you just blessed me.»

Gig-Sklaven

Beth Singler, eine auf AI spezialisierte Anthropologin und Mitarbeiterin des Züricher Forschungsprojekts «Digital Religion(s)», hat der Verwendung der Phrase «I’m blessed by the algorithm» eine wissenschaftliche Untersuchung gewidmet. Ihr fiel auf, dass u.a. prekär Beschäftigte der Gig-Ökonomie die Phrase gebrauchen.

In der Gig-Ökonomie bekommen Arbeiter:innen Aufträge («Gigs») über digitale Plattformen vermittelt, zum Beispiel Food-Kurier:innen. Wenn die Gig-Worker gute Tage haben, schreiben manche dies dem Algorithmus zu und fühlen sich quasi «auserwählt». Läuft es mies, fühlen sie sich vernachlässigt oder sogar «cursed by the algorithm» («vom Algorithmus verflucht»).

Ich bin als RefLaberin auch berufsmässig im Netz unterwege, kann das aber nur zum Teil nachfühlen. Wenn ein Posting gut läuft, denke ich in der Regel, dass das Thema eben triggert (Katzenvideos oder Beziehungsthemen kann keiner widerstehen!). Bei schlechten Performances bin ich geneigt zu vermuten, dass es an mir lag und ich es besser hätte machen können. Vielleicht sollte ich mir angewöhnen, den Algorithmus mit in die Verantwortung zu ziehen?

BBtA könnte eine allgemeine Phrase zur Beschreibung eines guten Tages werden.

Holy Crowd

Die Wiederkehr religiöser Sprache und gnostischer Motive und Mythen in der Tech-Gegenwart widerspricht laut der digitalen Anthropologin Beth Singler der alten Annahme, dass ein notwendiger Begleiter des technologischen Fortschritts und der Modernisierung die zunehmende Säkularisierung sei.

Die Forscherin untersucht auch, wie neue religiöse Bewegungen (NRMs) entstehen. Sie fand heraus, dass Online-Konversationen eine Basis für «neue» Traditionen» bilden können. Etwas komme auf, werde geteilt, gehe viral und ein «Schneeballeffekt der Legitimation» werde befeuert. Mit der Zunahme der Aufmerksamkeit vergrössere sich auch die Evidenz.

Für die Entstehung einer neuen religiösen Bewegung braucht es demnach kein charismatisches Gründerindividuum. Religion emergiert im Social-Media-Zeitalter gleichsam aus der Holy Crowd.

Das Netz befördert spirituelle Bewegungen und wird gleichzeitig in seiner Gesamtheit von manchen als eine Art von spiritueller Entität angesehen; durchaus mit dem Nimbus des Geheimnisvollen und in seiner Intention Unerforschlichen.

Der amerikanische Religionswissenschaftler Randall Reed («A New Pantheon») sieht bei drei göttlichen Attributen mit langer historischer und philosophischer Tradition eine hohe Vereinbarkeit mit KI-Konzepten: «omnipotence, omniscience, and omnipresence» (Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart). Reed bringt auch die Frage nach «omnibenevolence» auf, Allgüte.

Mrs. Davis lässt grüssen!

Die Vorstellung von digitalen Netzen als überlegener Intelligenz, die schliesslich Gott ersetzt, wird als «Datenreligion» bezeichnet. «Dataismus» beschreibt dagegen das Wiederaufleben religiöser und animistischer Vorstellungen in der Welt smarter Dinge. Zeug, das kommuniziert und ein scheinbares Eigenleben besitzt.

Mein Smartphone verbindet mich mit dem ungreifbaren und unbegreiflichen Netz. Dank dieses Fetisches des 21. Jahrhunderts begleitet mich die algorithmische Allwissenheit, wohin ich auch gehe. Sie ist, eine stabile Netzverbindung vorausgesetzt, permanent ansprech- und anrufbar für meine Fragen und Wünsche. Und sie geizt – im Unterschied zum  klassischen Gott – nicht mit Antworten.

Das Netz ist dauerhaft metaphysisch präsent. Seine Macht ist, wie die des klassischen Gottes, im Unsichtbaren angesiedelt. Eine Zeile aus Psalm 139 scheint es prophetisch zu erfassen:

«Von allen Seiten umgibst du mich / und hältst deine Hand über mir.»

Das digital gesammelte und sekündlich wachsende Wissen übersteigt das Wissen Einzelner in kosmischem Ausmass. Es lässt uns als gewaltiges Gegenüber ähnlich winzig und unbedeutend fühlen wie der Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert gegenüber der Unendlichkeit des unerforschlichen Sternenhimmels; mit dem Unterschied: Der digitale «Himmel» ist Menschenwerk.

In den Datenhimmel aus Nullen und Einsen kommen

Wenn die Verbindung abreisst, weil das Handy seinen «Geist aufgibt» oder der Computer eingeht, fühle ich mich wie abgeschnitten. Dann bin ich «cursed» und nicht «blessed». Dann geht es mir wie dem Protagonisten in Roman Polanskis «Der Gott des Gemetzels», als tragischerweise sein Handy in der Blumenvase untertauchte.

Was macht den Menschen im Datenuniversum aus? Transhumanist:innen sind der Ansicht, dass der Mensch dringender Optimierung bedürfe. Enhancement! Die Bindung an einen sterblichen fleischlichen Körper, die Empfindung- und Schmerzfähigkeit, die wir mit Tieren gemeinsam haben, ist aus der Perspektive des Transhumanismus ein Fehler in der Matrix.

Wenn man den Menschen als Summe an biochemischen Abläufen und neuronalen Synapsenschaltungen in seinem Gehirn betrachtet, kann man durchaus auf die Idee kommen:

Ich lasse ein Mind-Uploading machen und erlange dadurch Unsterblichkeit.

Mit einem derartigen Menschenbild kann man freilich auch eine künstliche Superintelligenz für Gott halten und anbeten.

Nach dem Ebenbild der KI erschaffen

Technologie und Religion waren immer schon eng verknüpft. Neue Technologien verändern auch Religion und Glaube. Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme sieht eine Gefahr der heutigen Datenreligion in Tendenzen zur Weltflucht: dem Abtauchen in eine Sphäre des Reinen und Geistigen, verbunden mit der Versuchung, die Welt einem schlimmen Zustand zu überlassen. Eskapistischen und depolitisierenden Religionsversionen der Vergangenheit konnte man bereits Ähnliches vorhalten.

Noreen Herzfeld, Professorin für Science and Religion, betont, dass wir mit der Nutzung neuer Technologien nicht nur die Welt um uns, sondern auch Teile von uns selbst verändern. Wir können, meint die Forscherin, dennoch weiterhin wählen, als Individuum und als Kollektiv, auf welchen Wegen wir der Technologie folgen – und auf welchen nicht.

Diese Souveränität gelte es zu bewahren.

Religion gibt uns Gemeinschaft und eine Geschichte. Sie hilft uns, Gespür dafür zu entwickeln, was im Leben wirklich zählt, worauf es lohnt, seine Hoffnung zu richten. Der «Gott des Algorithmus» gehört nicht dazu.

Abbildung: KI-generiert mit Adobe Firefly

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