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Himmlisches Zeugs: Die Cafékneipe

Es gibt Dinge, von denen man nicht weiss, dass man sie braucht. Bis sie wie zufällig ins Leben stolpern und man merkt, dass man nicht mehr ohne sie will. Die Cafékneipe ist so etwas.

Man kann ein Café, das sich wie die Erweiterung der eigenen Wohnung anfühlt, nicht finden. Der Ort findet einen und wird dadurch belebt, dass völlig unabsichtlich das eigene Leben darin eingeschrieben wird.

Die Cafékneipe fand mich, als ich ein einjähriges Journalismus-Praktikum in Deutschland machte. Ich lebte in einer Kleinstadt im Ruhrgebiet, die im zweiten Weltkrieg zerbombt worden war. Als Schweizerin fand ich es fürchterlich, dass es nicht einen Berg gab, auf den ich klettern und alles aus Distanz überblicken konnte. Der Industriekamin vom Landschaftspark Nord in Duisburg war zwar beeindruckend, aber nicht das, was ich unter «Natur» und «Rückzug» verstand. Ich fühlte mich wie ein Fisch, der in einem Aquarium gefangen war und wusste, dass es einen weiten Ozean gibt, in dem die Kiemen von wildem Wasser durchspült werden.

Fisch ausserhalb des Wassers

Was mich als Erstes rettete, war, dass ich mit vier Mitpraktikant:innen von der Redaktion in einer WG lebte. Wir kannten uns zwar nicht, wurden aber schnell zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Das Zweite war, dass ich von den drei Vorgänger:innen wusste, dass es die Cafékneipe gab. Sie lag am Rande der Innenstadt in einem Viertel, das seine besten Jahre hinter sich hatte und aus den wenigen verbliebenen Häusern der Industriezeit bestand.

Betrieben wurde die Cafékneipe von einem Verein, der sich zum Ziel gemacht hatte, die verschlafene Kleinstadt kulturell wiederzubeleben.

Gemeinsam mit Anwohner:innen des Viertels hatte der Verein den Innenraum gestaltet. Die Cafékneipe hatte einen Barbereich, einen Café-Bereich und einen Biergarten mit einem kleinen Veranstaltungsraum dahinter. Stilmässig erinnerte alles an eine Nordseekneipe. Das Essen war regional, saisonal und es gab für jede emotionale Stimmungslage, für jeden Anlass etwas auf der Karte: Salate, Brotzeit-Platten, Suppen, wechselnde Tagespasta, selbstgemachte Crêpes und – in der Schweiz noch gänzlich unbekannt – eine illustre Anzahl bunter Fritz-Limonaden, Astra-Bier und natürlich Weine und Cocktails. Damals waren wir allerdings noch etwas zu jung für Prosecco und Rotwein und hielten uns an Limos und Bier. Bemerkenswert war, dass die Preise selbst für Praktikant:innen bezahlbar blieben. Die Cafékneipe war eben kein durchdesigntes Gentrifizierungsprojekt.

Zum ersten Mal gingen wir etwa zwei Wochen nach Praktikumsbeginn dorthin. Es war abends nach einer aufwändigen Redaktionssitzung mit den freien Mitarbeiter:innen. Damals hatte die Cafékneipe noch eine hauseigene Katze, Fräulein Schmidt.

Die weiss-schwarze Katze bettete sich wahlweise auf die Lehne eines Sessels oder tigerte durch den Raum.

Wir sassen eng zusammen am langen Tisch direkt beim Fenster, über uns die schummrig-warmen metallenen Hochseelampen, weit bevor nackte Glühbirnen Trend wurden. Ich bestellte den Feldsalat (Nüsslisalat) mit Tomate-Mozzarella an einer süssen Balsamico-Sauce, dazu gab es Brot vom Bäcker und vermutlich ein Fritz-Melone. Umgeben von fröhlichen Menschen, Comfort-Food und einer wohligen Atmosphäre fühlte ich in diesem dauergrauen, unnatürlichen Ruhrpott endlich ein Stück Zuhause.

Das Revier von Fräulein Schmidt

Fräulein Schmidt verschwand leider bald darauf aus Hygienegründen, aber die Cafékneipe wurde zu meiner und unserer kollektiven zweiten WG-Heimat. Sonntags wurde der «Tatort» auf heruntergelassener Leinwand gezeigt und wir pilgerten hin. In unserem jungchristlichen Konservatismus beobachteten wir fasziniert, wie ein Typ gleichzeitig mit zwei Frauen auf der Couch knutschte. Wir führten Krisengespräche zwischen Limoflaschen und Kaffeetassen, feierten Geburtstage, Abschiede oder schleppten unseren Besuch mit in den Kosmos aus Salaten, Broten, oder – zu ganz besonderen Anlässen – Crêpes mit Vanilleeis, Himbeeren und zerlaufener Kinderschokolade.

Als ich an einem Sonntag während der WM von einem Anlass zurückkehrte, über den ich schreiben musste, ging ich direkt in die Cafékneipe, um zu sehen, ob sich die WG beim Public Viewing eingerichtet hatte. Einmal wollte ich auch den Französischstammtisch besuchen. Allerdings erschien an dem Abend keine:r, um über Biscuits oder Bier zu diskutieren. Auch das gehörte dazu: Allein in der Cafékneipe zu landen und vom Treiben umspült zu werden.

Als ich nach Zürich zurückkehrte, hatte ich zwar meine heissgeliebten Berge wieder.

Aber die Cafékneipe hinterliess mindestens ein matterhorntiefes Loch auf meiner sozialen Landkarte.

Es gab schicke Cafés, hässliche Cafés, teure Restaurants und neonbeleuchtete Takeaway-Läden, aber keine Wohnzimmeratmosphäre, die ein kulinarisches Konglomeratkonzept wie die Cafékneipe kannte. Das führte zu einem fragmentierten Dasein: Abende mit Freund:innen fanden zu Hause statt, nach dem Feiern im Club gab es einen Falafel auf offener Strasse, und einen entspannten Ort für Dates zu finden war praktisch unmöglich.

Sehnsucht nach dem Ruhrpottrefugium

Mein soziokulinarisches Leben hat sich seit der Cafékneipe aufgetrennt. Ich kann von Glück sprechen, dass seit einigen Jahren ein Café im Quartier eröffnet wurde, das zwei Minuten von meiner Wohnung entfernt liegt. In das kann ich mit allen gehen: Familie, Freund:innen, WG-Mitbewohner:innen, Arbeitskolleg:innen und so weiter. Ich kenne die Leute, die da arbeiten, treffe oft Nachbar:innen oder Bekannte.

Ich mag das Café sehr, aber ich liebe es nicht heiss und innig. Es ist auch ziemlich teuer. Meine drei Lieblingsorte in Zürich sind einseitiger, entweder vom kulinarischen Angebot oder den saisonalen Öffnungszeiten her, und ich werde nicht kategorisch dorthin gespült. Immer wieder packt mich dann die Sehnsucht nach der Cafékneipe. Dann denke ich an das Zitat, das sie auf der ersten Seite der Karte abgedruckt hatten (und vielleicht noch haben):

«Wir gingen hin, weil wir dort alles bekamen. Wir gingen hin, wenn wir Durst hatten, versteht sich, aber auch wenn wir hungrig waren oder hundemüde. Wenn wir glücklich waren, gingen wir hin, um zu feiern, wenn wir traurig waren, um Trübsal zu blasen. Nach Hochzeiten und Begräbnissen gingen wir hin, um unsere Nerven zu beruhigen, und vorher, um uns schnell Mut anzutrinken. Wir gingen hin, wenn wir nicht wussten, was wir brauchten, in der Hoffnung, jemand könnte es uns sagen. Wir gingen hin, wenn wir Liebe suchten oder Sex oder Ärger oder wenn jemand verschwunden war, denn früher oder später tauchte dort jeder auf. Vor allem aber gingen wir hin, um uns finden zu lassen.» (J. R. Moehringer im Prolog von «Tender Bar»)

Ich hoffe, dass das eines Tages auch für Zürich stimmen wird. Denn bis heute, obwohl die geliebte Feldsalat-Kreation «Luigi» längst von der Karte genommen wurde, kann ich ihn in der Cafékneipe trotzdem bestellen.

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