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Heilig. Eine RefLab Meditation

Ich weiß nicht, ob ich weiß 

was heilig eigentlich heißt   

 

Vielleicht „wichtig“ oder „besonders“   

oder „besonders wichtig“ als Steigerung   

aber irgendwie doch anders, sonst   

hätten „wichtig“ oder „besonders“ bereits  

als Worte ausgereicht.   

 

Oder „einzigartig“ –    

herausgehoben im Vergleich  

mit allem anderen, um die   

Großartigkeit besonders deutlich zu betonen,   

dessen, was man zu beschreiben versucht.   

 

Manchmal werden Menschen Heilige genannt.   

Das verstehe ich zumindest eher,   

wenn auch nicht so ganz,  

denn als Attribut für Kriege oder Nationalitäten   

oder ein bestimmtes Land   

mit ausgedachten Grenzen.   

 

//  

 

Um das Jahr 700 v. Chr. sitzt ein Prophet, manche würden ihn einen Poeten nennen, in der Nähe  

von Jerusalem und versucht seine vielleicht geträumte Visions-Szene schreibend zu fassen zu  

bekommen:  

 

Da sind mystische Flügelwesen in einer antiken Thronsaal-Szene  

flügelschlagend und Augen verdeckend aus Ehrfurcht vor der Majestät der Person auf besagt- 

besungen-bestauntem Thron,   

rufen sie sich gleich dreimal „heilig“ zu.  

 

//    

 

Im Jahr 1955 steht ein Poet, manche würden ihn einen Propheten nennen, in der Six Gallery in  

San Francisco und spricht ein Gedicht.   

Zwei Jahre später steht dieses Gedicht wegen angeblicher Obszönität vor Gericht und droht  

verboten und zensiert zu werden.     

 

In der Fußnote zu besagtem Gedicht ruft der Dichter den Zuhörenden zu Beginn gleich  

fünfzehnmal „heilig“ zu und schreibt,    

dass alles und alle heilig seien: Die Freunde, die Natur, die Mutter, die Gedichte, die  

Schreibmaschine und der eigene Körper und die die eigene Körperlichkeit mit allen Körperteilen  

und Körperöffnungen und allen schambehafteten Stellen in aller Nacktheit und inklusive der  

Sexualität.  

 

Das Masturbieren so heilig wie das Beten,   

das menschliche Vorhandensein heilig   

wie der göttliche Thronsaal,   

das Beschämte, so heilig wie das Glorreiche.    

 

//  

 

Vermutlich zwischen den Jahren 70 und 100 n. Chr. werden von verschiedenen Personen gleich  

vier Biografien verfasst über einen Mann, den viele für die Verkörperung des Heiligen halten.   

 

Sie schreiben so etwas wie:   

Die Liebe wurde Ausdruck,   

die Idee wurde Form,  

das Wort wurde Fleisch,   

das Heilige geerdet  

und der Schwerkraft unterworfen 3  

und lebte und liebte und lebte Liebe   

und wurde ermordet und es heißt,   

das dass mit ihrem letzten Schrei  

sichtbar die Trennung zwischen   

menschlich und heilig zerreißt4  

und alle dämlichen Dualismen fortan a 

peinlich berührt dastehen lässt.   

 

//  

 

Im Jahr 2024 sitzt ein Mensch in einem Café und schreibt und denkt nach über Thronsäle und  

Gerichtsverhandlungen und eine abgerissene Barriere zwischen dem Heiligen und uns und  

puzzelt sich aus den Versatzstücken eine Collage, die er mit seinen Worten abschließt:    

 

Heilig alle Körper und das menschliche Vorhandensein.  

Heilig das Heimweh und das große Geheimnis.  

Heilig alle Schriften und Gedichte, die trösten und sichtbar machen und Worte leihen, wo mir die  

eigenen fehlen und Verbundenheit fördern und das Gefühl nicht allein sein zu müssen.  

Heilig alle Risse, durch die das Licht hindurch scheinen kann.5  

Heilig die Unscheinbaren,   

Heilig die Liebenden,   

Heilig die Beschädigten,   

Heilig die Zuhörenden,   

Heilig die Betroffenen,   

Heilig alle Menschen,   

die einem anderen heilig sind oder waren oder werden.  

 

Aber ich weiß nicht, ob ich weiß   

was heilig eigentlich heißt   

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1 Gedanke zu „Heilig. Eine RefLab Meditation“

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