Ich höre gar nichts
Vielleicht täuscht mich meine Erinnerung. Vielleicht habe ich tatsächlich auch in ihrem Bett geschlafen. In meinen Bildern liege ich aber immer im Zimmer nebenan.
Unsere Fenster gehen gegen die Strasse und sind, seit bei den Nachbarn im Erdgeschoss eingebrochen worden ist, zusätzlich gesichert.
Die Nachbarschaft ist sich sicher, dass das ein paar Junkies gewesen sind, die man vorne am Aareufer sieht, wenn man in die Stadt geht. Ich habe sie schon oft gesehen. Nie genau, denn anstarren darf man sie nicht. Einfach schnell weitergehen. Mein kindlicher Kopf entwickelte daraus Szenen, die aus einer Zombie-Apokalypse stammen könnten: Bleiche Junkies versuchen von allen Seiten, vom Fenster vor mir und vom Garten hinter mir in unsere Wohnung einzudringen. Unsere Zimmertüren sind gegen den Flur geöffnet. Ich höre gar nichts. Nicht einmal die vorbeifahrenden Autos, deren Scheinwerfer mit den Jalousien verrückte Lichtspiele treiben. Aber dieses «Garnichts» hast einen eigenen Rhythmus: Das regelmässige Klicken des grün-goldenen Automatikweckers auf dem Nachttisch meiner Grossmutter.
«Ich bin da.»
Es sagt durch seine schiere Regelmässigkeit: «Alles gut. Ich bin da.» Zwanzig Jahre später am Sterbebett meiner Grossmutter war er immer noch da. Und er verstummte nicht, nachdem sie gegangen war. Und tickte weiter, als der Bestatter und sein Gehilfe sie herausgetragen hatten. Ich nahm den Wecker damals mit. Vielleicht weil ich begriffen hatte, dass sie nicht mehr da sein wird. Und weil es eine der wenigen Kindheitserinnerungen ist, die es auch physisch bis in meine Gegenwart geschafft haben. Er hilft mir heute nicht mehr beim Einschlafen. Nur ganz selten ziehe ich seine Automatik auf und nutze ihn. Aber er erinnert mich an die Kostbarkeit von Regelmässigkeit und die eigene Vergänglichkeit. Und zu beidem sagt er: «Alles gut. Ich bin da.»