Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer

Gott zwischen Pixeln: Spiritualität im digitalen Raum

Veranstaltungshinweis: In der hybriden RefLab-Tagung «Holy Spaces» geht es am 25. Oktober um eine Kartografierung der digitalen Spiritualität. Näheres dazu sowie das Anmeldungsformular findest du hier.

Im folgenden Beitrag geht es um die Beantwortung von drei Fragen. Erstens: Gibt es (überhaupt) Spiritualität im Netz? Zweitens: Gibt es eine Spiritualität des Netzes? Und drittens: Welche Spiritualität brauchen wir im Netz?

1. Gibt es (überhaupt) Spiritualität im Netz

Wenn es um die Frage nach Leben im digitalen Raum geht, scheiden sich häufig die Geister. Für die einen findet wahres, echtes Leben ausserhalb digitaler Welten statt, in der analogen Realität. Analoge und digitale Realität stehen aus dieser Perspektive in einem Verhältnis wie echte Blumen und Plastikblumen.

Spiritualität im Netz und Künstliche Intelligenz können demnach nur Plastikspiritualität oder Plastikintelligenz sein.

Für andere ist ein Leben ohne digitale Medien und elektronische Vernetzung kein wahres Leben. Für sie fühlen sich auch künstliche Umgebungen oder hybride Formen natürlich an. Den digitalen Raum und Künstliche Intelligenz erleben sie nicht als Dinge aus Plastik, wohl aber als unendlich plastisch.

Kirche spielt sich für viele immer noch wesentlich im ersten Bereich ab: im qualitätsvollen Miteinander und gemeinsamen Mit-Gott- und Vor-Ort-Sein in Kirchen, Kapellen oder Hauskreisen, was sicherlich weiterhin wertvoll bleibt.

Plastikspiritualität

Die Generation Y und Z indes erlebt auch das Netz als biografisch relevanten Ort. In digitalen Welten lernt man nicht nur andere und die Welt, sondern auch sich selbst und die eigenen Bedürfnisse besser kennen. Dazu gehören auch spirituelle Bedürfnisse.

In Sozialen Medien bahnt sich Verliebtheit an, dort werden auch Trennungen kommuniziert, und im Fall begegnet einem im Netz auch das Göttliche.

Viele Menschen hängen mit der elektronischen Welt heute wie über eine Nabelschnur zusammen. Sie und ihre Smartphones sind so unzertrennlich, dass sie die Geräte sogar beim Schlafen neben sich haben möchten. Sie nehmen dabei in Kauf, dass Strahlung ihren Schlaf stören kann.

Als elektronisch eingebettete Individuen sind wir heute hypervernetzt und hyperconnected.

Geräte erweitern Körper

Smartphones, Smartwatches und andere Devices kann man als Erweiterungen von menschlichen Körpern oder auch als ausgelagerte Organe ansehen.

Durch die Technologien sehen, hören, fühlen wir. Und durch sie sind wir, zumindest potenziell, mit allen anderen Menschen verbunden.

Verinnerlichtes Wissen um eine umfassende Verbundenheit ist nicht nur ein mystisches Ideal, sondern auch eine klassische Definition von Spiritualität. Eine andere Definition lautet: Spiritualität bedeutet, zum Wesentlichen und Eigentlichen zu gelangen.

Elektronische Technologie schafft Grundlagen für schier unbegrenzte Verbundenheit.

Eine Verbindung in die Tiefe aber schafft sie nicht. Das schaffen nur Seelen, und diese lassen sich nicht verdrahten.

Tiefe Verbundenheit ist auch im Netzzeitalter etwas Nicht-Technisches, Unverfügbares, Geheimnisvolles.

Medien als Medien des Göttlichen

Spirituelle Angebote im Netz aber können eine Grundlage bilden: für die Verbindung mit anderen, das Kennenlernen des Heiligen, die Erfahrung des Göttlichen.

Es sind religiöse Angebote für Menschen, die im Netz zu Hause sind.

«Im Alltag spirituelle Momente zu ermöglichen», nennt Rainer Koch (Haus kirchlicher Dienste Hannover) als vordringliches Ziel religiöser Applikationen. Koch hat die evangelische Meditations- und Gebets-App Evermore sowie den viral gegangenen Meditationsworkshop LUV mitentwickelt.

Menschen sollen über Smartphones das Gefühl vermittelt bekommen, «die tiefere Wahrheit, das Wesen der Dinge, das Geheimnis des Lebens» gesehen zu haben:

« … als wäre ein Schleier beiseite gezogen worden.»

«Man muss nicht anklopfen, um in Gottes Gegenwart zu kommen. Sie ist immer schon mitten unter uns. Ich wünsche mir sehr, dass die App Menschen unterstützt, das zu erleben.»

Dass Menschen Meditations- oder Gebets-Apps wie «Evermore», «YouVersion» oder die reformierte App «from …» nutzen, zeigt, dass Spiritualität auch im Netz zu Hause ist und Gott offenbar nicht vor elektronischen Schnittstellen Halt macht.

2. Gibt es eine Spiritualität des Netzes

Das eine sind spirituelle Angebote im Netz, das andere ist das philosophische und theologische Nachdenken darüber, ob es so etwas wie eine Spiritualität des Netzes gibt.

Kann das Netz selbst als etwas Spirituelles angesehen werden? Und falls ja: Gibt es Rückkopplungen zwischen dem vernetzten und dem individuellen Bewusstsein?

Ein Vordenker auf diesem Gebiet ist der Jesuit und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955). Er nahm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstaunlich viel von dem vorweg, was uns noch heute beschäftigt. Spätere Theorien des Cyberspace fussen unter anderem auf seinen Ideen.

Vor dem Hintergrund der frühen Computerentwicklung verband Teilhard Gedanken über die Entstehung einer vernetzten, verdichteten mentalen Sphäre mit dem evolutionären Entwicklungsansatz. Für die vernetzte Sphäre prägte er den Begriff «Noosphäre» (von griechisch noũs, Geist).

Unter Noosphäre verstand Teilhard die Sphäre eines kollektiven Geistes als Resultat interpersonaler Vernetzung.

Bienenschwarmbewusstsein

Das Thema der inter- oder überpersonalen Vernetzung und des digital erweiterten, kollektiven Bewusstseins («hive mind», Bienenschwarmbewusstsein) wurde seither in vielen Science-Fiction-Filmen durchgespielt, z.B. in «Stranger Things».

Vorstellungen eines überindividuellen Bewusstseins, einer Schwarmintelligenz oder des «Ultrahumanen» (Teilhard) zeigen auch eine gewisse Nähe zu Gedanken des Schweizer Psychoanalytikers C.G. Jung. Jung prägte für die vor- und unbewusste menschliche Empfindungs- und Erfahrungsinhalte den Begriff «Kollektives Unbewusstes».

Gibt es so etwas wie ein kollektives menschlich-technisches Unbewusstes?

Da unsere Gehirne plastisch sind und sich in der Evolutionsgeschichte mehrfach verändert, umgebaut und erweitert haben, liegt der Gedanke nicht allzu fern, dass Hypervernetzung tatsächlich irgendetwas mit uns macht.

Gewisse Areale und Funktionen, etwa Memorierfähigkeit, werden schon heute deutlich weniger gebraucht. Andere dagegen erfahren Erweiterungen, z. B. sind die Anforderungen extrem gestiegen, eine Vielzahl von Reizen und Daten parallel «verarbeiten» zu müssen.

Teilhard nahm an, dass sich mit einschneidenden Veränderungen des Lebens in hochtechnisierten Umgebungen auch neue religiöse und spirituelle Bedürfnisse entwickeln.

Mensch oder Menschine?

Was wenig bekannt ist: Die einflussreiche Vertreterin eines feministischen Posthumanismus [1], Donna Haraway, knüpft mit ihrem Denken unmittelbar an Überlegungen Teilhards an. Die Sozialphilosophin verbindet in ihrem Denken Posthumanismus, Feminismus und Ökologie.

(Mit Haraway beschäftigt sich auch eine Folge von «Ausgeglaubt».)

Mit «A Cyborg Manifesto», 1985 erschienen, hat Haraway einen wichtigen Grundlagentext zu dem Thema menschlich-maschineller Verschmelzung geliefert. Cyborg oder «Menschine» sind Bezeichnungen für biologisch-maschinelle Hybride. Haraway schreibt:

«Wir finden uns als Cyborgs, Hybride, Mosaike, Chimären wieder. Biologische Organismen sind zu biotischen Systemen geworden.»

Die Naturwissenschaftlerin und Theologin Ilia Delio («Künstliche Intelligenz braucht Religion», Chalice Verlag 2024) schliesst aktuell an Haraways feministischen Posthumanismus und an Teilhards Theologie des Zusammenströmens spiritueller Energien in der Noosphäre an.

Für die amerikanische Nonne schliesst «Interspiritualität» Technologien ein und steht im Dienst einer ökologischen Care-Ethik im kosmischen Massstab.

Posthumanismus ist für die Franziskanerin keineswegs «postreligiös», sondern im Gegenteil die Suche nach «neuer religiöser Tiefe» durch umfassendes Verbundensein («Relationaler Holismus»).

Heiliger Hotspot

Lassen sich digitale Netze und Künstliche Intelligenz tatsächlich als Teil einer Bewusstseinsrevolution und Sprung auf eine neue evolutionäre Stufe verstehen? Sind die Technologien Bestandteile eines göttlichen Plans?

Oder sind sie in der Abwesenheit Gottes entstanden und konkurrieren mit «natürlichem Bewusstsein»?

Für Teilhard de Chardin war die Welt grundsätzlich sakramental, göttlicher Bereich, offen für mehr Sein und Bewusstsein. Er sah eine Religion der Erde und eine Kirche des Planeten am Horizont schimmern, und die Konturen eines kosmischen Christus.

Auch die Technotheologin Ilia Delio rückt Gott nahe an die Welt heran und identifiziert ihn sogar mit Technologien.

Gott wird zum heiligen Hotspot und der Mensch zum Mitschöpfer.

Kosmische Spiritualität ist zu üben!

An dieser Stelle scheiden sich nicht nur die Geister, sondern die Theologien. Karl Barth würde wahrscheinlich den Raum verlassen und die Tür hinter sich zuknallen. Mit dem kürzlich verstorbenen Jürgen Moltmann aber konnte man, vor dem Hintergrund der globalen ökologischen Krisenlage, über «kosmische Spiritualität» reden. Moltmann schrieb:

«Planetarische Solidarität und kosmische Spiritualität sind zu üben. Die kosmische Versöhnung und der kosmische Christus kehren zurück.»

Dorothee Sölle rückte in ihrem Schöpfungsbuch «Lieben und arbeiten», im selben Jahr erschienen wie Haraways «A Cyborg Manifesto», Gott nahe an die Welt heran: entgegen der «herrschende theologische Vorstellung von Gottes absolutem Anderssein».

Allerdings dachte sie nicht an einen Cyborg-Gott, sondern an den mit den vulnerablen Geschöpfen und dem Zustand der Erde leidenden Gekeuzigten. Ja, sie identifizierte das Leiden der Erde mit Jesu’ Leiden.

«Ist Gott der total Andere, so wird die Welt zu einem gottlosen Ort, und es gibt in ihr nichts Heiliges, keine göttliche Wirklichkeit mehr.»

Gott und die Welt

Inzwischen hat sich gezeigt, dass computergestützte Vernetzung keineswegs automatisch planetarische Solidarität oder kosmische Spiritualität befördert. Soziale Medien haben gesellschaftliche Spaltungen sogar in erschreckendem Mass verstärkt.

Gleichzeitig aber lässt sich über Netze Solidarität weitaus effizienter organisieren als in der vordigitalen Ära und in Social Media ist nicht nur Raum für Hatespeech, sondern auch für Empathie.

In einem religiös gewendeten Posthumanismus geht es gegenwärtig darum, für richtungs- und orientierungslose Hochtechnologien und Künstliche Intelligenz ein ethisches Fundament zu bauen, das auch christlich sein kann.

In jedem Fall lohnt es sich, über lebensfreundliche technische Anwendungsmöglichkeiten nachzudenken.

Digitale Technologien und Medien werden kaum aus der Welt verschwinden. Wir werden nicht einfach den Stecker ziehen, oder?

3. Welche Spiritualität brauchen wir im Netz?

Eine Spiritualität …

  • die friedliche und liebevolle Energien verstärkt
  • die die Reizfülle unterbricht und Öffnungen schafft
  • die Sammlung ermöglicht und tief durchatmen lässt, auch und sogar im Netz
  • die an digitalen Lagerfeuern knistert und wärmt trotz technoider und weitgehend kommerzieller Netzwerkumgebungen
  • die interspirituell ist, also auf tiefe Weise inklusiv
  • die gemeinsam in Communities unterwegs sein lässt
  • die sich in neue empathische und ethische Formen ergiesst, darunter digitale Formen von Kirche
  • die dazu beiträgt, dass sich Menschen in einer Welt voller Krisen und Kriege nicht verloren fühlen
  • die verhindert, das Hypervernetzung in Einsamkeit mündet
  • die ermutigt, aus dem Passivsurfen zu aktiverer Lebensgestaltung zu gelangen
  • die einen anderen Geist als den dort vorherrschenden in die Netze bringt
  • die begreifen lässt, was Christ:insein heute bedeuten kann

RefLab-Tagung am 25. Oktober

«Holy Spaces»: Hybride Tagung des RefLab zu Spiritualität im Netz. Birgit Mattausch und Meinrad Furrer stellen den Zoom-Gottesdienst «Brot & Liebe» vor, Simon Weinreich das Netzkloster, Spiro Mavrias die Minecraft-Kirche und Fabian Winiger gibt Einblicke in das Thema Digitalisierung seelsorglicher Spiritual Care (Forschungsprojekt der Universität Zürich). Zeit und Ort: 25. Oktober, 13–17.30 Uhr, Hirschengraben 50, Zürich. Im Anschluss gibt’s einen Apéro. Die Teilnahme ist kostenlos.

Hier klicken, um dich anzumelden.

[1] Diskussionen zu Transhumanismus und Posthumanismus drehen sich darum, wie einschneidende technische Veränderungen, darunter die immer umfassendere digitale Einbettung, den Menschen und das menschliche Bewusstsein verändern. Der Transhumanismus geht dabei stärker vom Individuum aus. Er setzt auf individuelle Optimierung und Überwindung einer als defizitär erlebten menschlichen Körperlichkeit und Intelligenz, zum Beispiel durch Verjüngung, Lebensverlängerung oder technische Substitute. Im Posthumanismus steht die Überschreitung des begrenzten Menschlichen hin zu einer umfassenden geistigen und empathischen Vernetzung sowie die Überwindung des Anthropozentrismus im Zentrum. Ein kürzlich in der Schweiz herausgekommener Dokumentarfilm, «The End of Humanity», setzt sich kritisch mit dem «algorithmischen» Menschenbild unsere Gegenwart und dem Transhumanismus auseinander.

Hier gehts zum RefLab-Dossier «Digitale Transformation», das wir laufend ergänzen.

Und hier gehts zu RefDate, der reformierten spirituellen Plattform für den Raum Zürich.

Foto von Igor Omilaev auf Unsplash

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