„Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden.“
(Römer 7,7)
Im Alltag sage ich dich selten.
Du bist ja auch so ein großes Wort.
Obwohl du geschrieben dagegen eher kurz bist.
In der deutschen Sprache besteht dein Name
zumindest lediglich aus fünf Buchstaben:
Drei Konsonanten und nur zwei Vokale.
Als ich dich zum ersten Mal gesehen habe,
habe ich dich gleich aufgesammelt und
in meiner Hosentasche vorsichtig nach Hause getragen.
Ich wusste noch nicht so genau, wofür du gut bist,
aber dass du es bist, war zumindest eine Ahnung.
Ich habe dich abgelegt in die kleine Schublade
mit den besonderen Begriffen,
die manchmal ausgerechnet in dem Moment klemmt,
wo ich die Worte daraus bräuchte.
//
Im Alltag sage ich dich selten.
Meistens höre ich dich eher,
als dich von mir aus zu formulieren.
In eher unwirklichen Umgebungen,
in Gerichtssälen und sakralen Gebäuden,
an Orten wo Gebete wehen
und Lieder gesungen
und antike Texte rezitiert werden,
die einige für heilig halten.
In einem davon hat ein antiker Briefverschicker
so etwas wie seine Hall of Fame
der großen, kurzen Wörter
aufgeschrieben:
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
Da habe ich mir ein bisschen Sorgen um dich gemacht
und mich gefragt, ob du traurig warst,
als diese Top 3 gedroppt wurde
und du nicht mal am Rande erwähnt wirst.
Aber dann denke ich, vielleicht,
sind das eigentlich im Kern sogar Zeilen,
die am Ende doch dich meinen und irgendwie zu beschreiben
versuchen:
Du bist die Karte, auf die das Vertrauen setzt, das weiß,
dass der Buchstabe tötet und das Gesetz mit Barmherzigkeit auslegt/liest.
Du bist das Trotzdem in der Hoffnung, die bis
zuletzt nicht stirbt, solange sie dich irgendwo vermutet.
Du bist die Hände und Füße und Arme der Liebe,
ohne die selbst sie nur ein Wort bleiben würde.
Du bist in allen dreien vorhanden.
Ich wünschte, du oder Spuren von dir
wären mehr enthalten in Kommentarspalten
und Abspaltungsbemühungen und Haarspaltereien
und würdest mir helfen,
mich im Gegenüber sehen zu können
und dem anderen dann wenigstens den Grad
meiner eigenen Unperfektheit zuzugestehen.
Und dass wir alle nicht konsequent zu Ende denken
und handeln und lose Enden und unlogische blinde Flecke
und Unwissenheiten und Überheblichkeiten und Bildungslücken
und Lieblosigkeiten und Ängste voreinander und vor dir
und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bestätigung und Zuneigung haben. Und dass wir alle,
als es darum ging, die Weisheit auszulöffeln
nur Gabeln dabei hatten. Oder ich zumindest.
Wer für alle spricht, meint meistens sich,
meintest du einmal
und dass ich nicht ständig so heftig zu mir selbst sein muss.
und dich für mich und mit mir haben darf.
//
Im Alltag sage ich dich selten,
aber ich werde dich auf die Straße werfen,
anfangen dich zu mischen mit anderen Begriffen
aus den Schubladen der Gebrauchssprache
bis du uns in die Sätze sickerst und aus den Händen tropfst.
Und übersetzt bist auf alle Uferseiten,
an denen wir die Brücken abgerissen haben.
Ich suche dich und bin hingerissen,
wenn du mir unverhofft und unvermutet
über den Weg läufst, wie es deine Art ist.
Im Alltag sage ich dich selten,
aber sehe dich vielleicht öfter,
als mir auffällt.