Interkulturelle Fauxpas
Wenn man als Volunteer ein Jahr in einer fremden Kultur verbringt, sollte man zum Ziel haben, in möglichst viele Fettnäpfchen zu treten. Danach wird man sein Leben lang einen Bogen um alle Fauxpas machen. Oder um alle Menschen.
Emilia beschleicht das Gefühl, dass sie den zweiten Pfad einschlagen wird.
Sie macht ihr interkulturelles Zwischenjahr nicht im Ausland – fliegen ist im Jahr 2050 viel zu teuer geworden für derartige Vergnügen. Stattdessen arbeitet Emilia in Zürich in einem lateinamerikanischen Lebensmittelladen. Und wohnt in einer Gastfamilie aus Kolumbien.
Hilfe!
«Komm, ich helfe dir, Hijita!»
Zwei dürre Arme greifen nach dem Sixpack «Inca Kola», das Emilia gerade versucht ins Regal zu hieven. Señora Quispes Kopf reicht ihr bis zu den Schultern und ihre Bemutterung hängt Emilia zum Hals raus.
«Nein nein, Señora. In Ihrem Alter sollten Sie den Rücken schonen. Erledigen Sie ruhig ihren Einkauf. Das Bananenjoghurt habe ich gerade neu aufgefüllt − extra für Sie.»
Aus dem Augenwinkel sieht Emilia, wie ihre Chefin nach dem grünen Notizheft greift. Sie erschrickt und erinnert sich an die Einführung für interkulturelle Volunteers.
«Wenn du ein Hilfsangebot ablehnst, kann das als Beleidigung verstanden werden.»
Hektisch schaut sich Emilia um.
Jetzt macht es der Grünspatz noch schlimmer
«Aber wenn Sie möchten, können Sie die Plastikverpackung zum Mülleimer im Lagerraum bringen. Das wäre eine grosse Hilfe», versucht sie den Stolz der Señora zu streicheln.
Señora Quispe schaut sie vorwurfsvoll an. «Für die Müllentsorgung bin ich dann wieder gut genug», sagt sie schnippisch und macht einen grossen Bogen um den Plastikberg am Boden. Emilia hört das Gekritzel im Notizbuch, das sich nach Feierabend in eine Moralpredigt verwandeln wird.
Emilias positives Selbstbild bröckelt. Ihre Enttäuschung liegt noch schwerer auf den Schultern als das Inca Kola.
Sie dachte, sie wäre besser als die typischen Volunteers.
Sie hat sich vorgenommen, sich komplett den südamerikanischen Kulturen anzupassen, selbst wo es ihrer Intuition widerspricht. Emilia hat im Sprachkurs verschiedene Slangs gelernt, hat ihre Tandem-Partnerin über unverfängliche Smalltalk-Themen ausgefragt, Podcasts über interkulturelle Erfahrungen gehört und jetzt kann sie sich nicht einmal mit einer älteren Dame unterhalten, ohne diese zu beleidigen.
Immerhin: Austausch ohne (CO2)Ausstoss
Vor ihren Augen bildet sich ein Schleier aus Tränen. «Man sollte mir verbieten, je wieder einen Fuss in einen Latinoshop oder eine südamerikanische Gastfamilie zu setzen», denkt sie. Dabei hat sie sich doch so gefreut, als immer mehr Menschen aus Lateinamerika nach Zürich gezogen sind. Ihre Chance, doch noch in eine fremde Kultur einzutauchen!
Während sie das Snackregal mit gerösteten Maiskörnern auffüllt, kommt ihr eine Idee:
«Señora Quispe!» Die ältere Frau ist bereits unterwegs zur Kasse, als Emilia freudestrahlend auf sie zugeht.
«Gestern habe ich versucht, Juanes zu kochen, aber sie sind viel zu weich geworden. Könnten Sie mir ein paar Tipps geben?»
Dieser Schachzug ist mindestens Niveau B2 in der interkulturellen Sprachfertigkeit. Doch die Señora schaut Emilia an, als wäre sie es nicht wert, angeschaut zu werden. Sie schüttelt den Kopf, bezahlt und geht.
Emilia blickt hilfesuchend zu ihrer Chefin. Diese seufzt und erklärt:
«Juanes ist ein Gericht für arme Menschen aus der Provinz. Du hättest sie genauso gut fragen können, wie man am besten einen Schlafplatz unter der Brücke einrichtet.»
Mit gesenktem Kopf geht Emilia zurück zum Snackregal. Vielleicht sollte sie aufhören, so zu tun, als würde sie andere Menschen durchschauen.
«Immerhin habe ich keine Flugreise unternommen, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Offenbar kann man in genügend kulturelle Fettnäpfchen treten, ohne dafür drei Tonnen CO2 in die Luft zu pusten.»
2 Gedanken zu „Fettnäpfchen für Volunteers“
Danke für die Blog-Serie. Wie ist die Aussage: “Apokalyptische Vorstellungen hindern Menschen daran, sich mit der Klimakrise zu beschäftigen.” zu verstehen? Das scheint mir widersprüchlich. Wenn es eine apokalyptische Vorstellung gäbe, dann würde sich jeder sputen.
Merci für deine Rückfrage, Fabrice. Mit diesem Satz ist die Verdränungs-Strategie gemeint: Wenn etwas bedrohliches auf mich zu kommt, möchte ich das so lange wie möglich ignorieren und so tun, als wäre alles ok. Im Klimadiskurs versuchen klimabewegte Menschen meistens darauf hinzuweisen, wie schlimm die Folgen sein werden (apokalyptisch). Oft führt dies aber nicht dazu, dass sich andere Menschen verstärkt damit auseinandersetzen, sondern eher zu einer Abwehrreaktion: Man zieht isch zurück in die eigene kleine Welt, um nicht in den Krisenmodus zu verfallen. Apokalyptische Vorstellungen fördern also nicht das Engagement, sondern eher die Verdrängung des Problems.
Leuchtet dir diese Erklärung ein?