Wandern ist für mich irgendwie zu einem Ding geworden: Seit dem Spätsommer hat sich meine Verbindung zur Natur verändert.
Spontan habe ich damals eine Nacht draussen unter dem nackten Sternenhimmel im Mondschein mit einem Lieblingsmenschen verbracht. Dabei konnte ich zusehen, wie sich uralte Ängste aufgelöst haben.
Seither finde ich mich ebenso spontan öppe einisch pro Woche auf einem Berg wieder. Ich kann bloss staunen über diese Frau, die furchtlos in den steilsten Felshängen herumkraxelt. Die es regelrecht geniesst.
So kenne ich mich nicht, das ist absolut nicht «typisch Leela».
Gleichzeitig erinnere ich mich aber auch daran, wie vertraut sich dieses «ufelaufe» und in den Bergen sein angefühlt hat bei der ersten dieser Wanderungen (jene, bei der ich dann mit Gleitschirmfliegen gespielt habe). Vertraut, als hätte ich das Hunderte von Jahre schon so gemacht.
Skiferiengefühl – ohne jede Spur von anderen Menschen
Letzte Woche habe ich wieder meine Siebensachen gepackt und bin losgegangen, Richtung Leventina. Die angepeilte Wanderung war für Juli bis Oktober empfohlen, doch ich dachte, äh was, bitz Schnee macht ja nüüt.
Ich packte aber warme Sachen, Stirnband, Handschuhe ein. Und für meine Verhältnisse sehr viel Essen und Wasser für diese sechsstündige Tour.
Mein Aufstieg in Dalpe hat wunderbar lieblich begonnen, es war kalt und sonnig und in mir kam fast chli Skiferiengefühl auf. Dem Schnee bin ich bald begegnet, die Wegmarkierungen waren in der Folge nicht super einfach zu sehen, doch ich liess mich nicht bremsen.
Spuren von anderen Menschen sah ich keine.
Irgendwann im Aufstieg kam mir jemand entgegen und der Gedanke «ah, der hat sicher in der Hütte oben geschlafen» ploppte in meinem Kopf auf. Ich wusste, dass es auf der Route Hütten hat und wusste von anderen Hütten, dass die im Winter jeweils einen «Winterraum» geöffnet hatten, auch wenn die Hüttenwarte nicht vor Ort sind.
Mehr Gedanken dazu geschahen aber nicht. Zu steil war der Weg, zu sehr musste ich mich inzwischen darauf konzentrieren, wohin ich meine Füsse setzte – gar nicht so einfach, abschätzen zu können, ob das schliferig wird oder hält oder nicht unter all dem Schnee.
Eine leise Ahnung steigt auf
Wenigstens konnte ich nun den Spuren des anderen Wanderers folgen, das machte es um einiges einfacher. Inzwischen bestand der Weg nämlich aus verschneitem Geröll, verschneiten Steinen. Ich brauchte eine Pause.
Endlich kam ich bei der ersten Hütte an – und fand sie tatsächlich offen, zum Glück. Ich verzehrte meine Sandwiches, ass Ovisport (ewigi Liebi für die), trank etwas Wasser.
Und merkte: He ich würd eigentlich auch noch gerne hier oben übernachten. Auch wenn ich weder Schlafsack, na sonst irgendwas mitgebracht habe.
Ich sah mich ein Kafi trinken im Sonnenaufgang. Delicious.
Doch es war erst zwei Uhr nachmittags, ich war noch nicht fertig mit dem im Schnee Herumstaksen. Und bis zur nächsten Hütte, die laut Website ebenfalls einen Winterraum haben sollte, waren es noch zwei Stunden.
Oder vielleicht ist jetzt auch einfach nicht der Moment dafür, in den Bergen zu schlafen, dachte ich. Zu kalt, zu wenig ausgerüstet.
Jeder Schritt ein Schritt ins Unbekannte
Ich machte mich also auf den Weg weiter. Also was heisst hier auf den Weg – leider war der nun nicht mehr vorgespurt, sondern musste relativ mühsam mit jedem Schritt ertastet werden. Jeder Schritt ein Schritt ins Unbekannte.
Ich kam nur sehr langsam vorwärts. Und wurde mir bewusst: OK, wenn ich hier dumm umfalle, dann ist das Bein oder Fuss oder was auch immer gebrochen. Netzwerk-Empfang hatte ich nur noch selten. Die Sonne stand langsam aber sicher immer tiefer im Himmel.
Was nun? Ich schickte meinen Standort an einen Liebsten mit der Nachricht:
Falls du bis morgen Mittag nichts von mir hörst, dann schick doch bitte die Rega los.
In mir dämmerte die Erkenntnis, dass ich es wohl tatsächlich nicht schaffen werde, am selben Tag noch wieder von diesem Berg herunterzusteigen. Mir war kalt, meine Socken nass in den Wanderschuhen, ich schlitterte mehr als dass ich ging.
Aufgehoben und behütet – furchtlos und total erschöpft
Trotzdem: Der Sonnenuntergang hinter den Berggipfeln in der Ferne, zusammen mit dem Vollmond, die schiere Brutalität der Schönheit haute mich regelrecht um.
Irgendwie werde ich das schon überleben. Auch wenn ich zum Zeitpunkt keinerlei Ahnung hatte, wie.
Es wurde dunkel, der Mond schien noch nicht. Ich hörte die Tiere um mich herum. Hatte ich Angst? Gute Frage. Nein, ich glaube nicht. Es war so klar, dass ich auch jetzt, selbst in dieser Situation sicher bin, aufgehoben und behütet.
Ich war gleichzeitig aber auch dermassen erschöpft, dass ich nur noch um einen «einfachen, mühelosen Weg zur Hütte» bat. Und zwar laut, immer wieder laut diesen Wunsch, diese Bitte aussprach.
Endlich sah ich sie auch, die Hütte. Doch ich war immer noch weit entfernt und wusste: Lange mach ich das nicht mehr.
Einen kurzen Moment lang war da auch dieser Impuls, mich einfach hinzusetzen und zu weinen. Doch die Klarheit, ja wahrscheinlich auch der pure Überlebensimpuls war grösser: Das bringt etz einfach gad gar nüüt, steck die Energie lieber ins Weitergehen.
«Langsam, eifach langsam, Schritt um Schritt», sprach ich mir zu.
Erfrorene Füsse, Feuer und lauwarme Bouillon
Unendlich erleichtert stolperte ich schliesslich auf die Hütte zu. Der fast volle Mond schien nun in seiner ganzen Pracht auf die Winterlandschaft.
Das «rifugio d’emergenza» war offen, aber saukalt, Strom gab es keinen, Wasser auch nicht. Dafür Holz, ein paar Matratzen und – zum Glück – Wolldecken. Immer mal wieder hatte ich auch Empfang, um Entwarnung zu geben.
Ich machte erstmal ein Feuer.
Im Essens-Notvorrat fand ich Bouillon und Tee. Meine Dankbarkeit für die Schweiz und ihre Einrichtungen, die auf purem Vertrauen basieren, war in jenem Moment unendlich. Immens.
Ich legte eine Matratze auf den Tisch neben dem Feuer, um noch näher bei der Wärmequelle zu sein. Und nahm wahr, wie viel Adrenalin in meinem Körper pulsierte und sich mein Nervensystem langsam, langsam wieder beruhigte.
Alle paar Stunden erwachte ich, sah nach dem Feuer, sah den Mond – und wusste in jeder Zelle meines Körpers: Ich bin sicher. Ich muss nicht erfrieren. Welch Erleichterung!
Zuckerwattenhimmel und Ovisport
Ich wachte kurz nach sieben auf und war enttäuscht, dass ich den eigentlichen Sonnenaufgang verschlafen hatte. Die Aussicht war aber auch so atemberaubend, der pastellfarbene Zuckerwattenhimmel, die verschneiten Berge.
Ich kochte etwas Schnee für einen dieser Instantkaffees, die ich eigentlich nicht mit dem kleinen Finger anfassen würde, in jenem Moment aber grossartig fand. Zusammen mit Ovisport, Petit Beurre und einer Banane ein ganz ordentliches Zmorge.
Die Decken hinterliess ich gefaltet, löschte das Feuer, nichts verriet meine epische Reise, sowohl im Aussen als auch im Innern.
Ich fühlte mich, als wär nichts geschehen.
Eigenartig.
Ein uralter Abdruck kommt ans Licht
Der Abstieg war, ausgeruht und mit frisch aufgeladenen Batterien, wesentlich weniger mühsam als am Tag zuvor. In der Morgensonne stiefelte ich zurück Richtung Dalpe.
Und spürte in mir, wie sich ein uralter Abdruck hervorschälte. «Abdruck» im Sinn von im Körper erfahrener Erinnerung, einem abgespeicherten Erleben von vor wer weiss wieviel Tausenden von Jahren.
Der Abdruck einer mächtigen Frau, die in den Bergen herumzieht, die sowohl bewundert als auch gefürchtet wird, die mit Kräften verbunden ist, die nicht allen auf Anhieb zugänglich sind. Sowas wie Merlin, aber als Frau. Es war jene Frau, die über alles mächtige Zauberin, die mit ihrem Stab und Umhang den Berg heruntergegangen ist.
Ich spürte sie so deutlich, ebe, sie war in jenem Moment ich.
Ein unglaublich ermächtigender Moment. Sie ist tatsächlich sicher, no matter what. Und sie ist stark, mächtig, so viel stärker und mächtiger, als die anderen uralten Abdrücke in ihrem System haben erahnen lassen. Ich kann nur staunen.
Diese Nacht in den Bergen scheint mir extrem bedeutungsvoll, ja lebensverändernd zu sein. Noch kann ich nicht sagen, wie sie sich konkret auswirken wird.
Klar ist jetzt jedoch schon: Der mächtigen Berg-Mystikerin begegnet zu sein, fühlt sich super befreiend an. Es fühlt sich an nach einem noch grösseren Zugang zu einer unversiegbaren Kraftquelle, zur Lebensquelle selbst.
Bild: Leela Sutter
Eine Bergwanderung setzt einiges voraus und sollte nicht leichtfertig angetreten werden: Du brauchst einerseits sehr gute Kondition, Schwindelfreiheit sowie Trittsicherheit, andererseits aber auch eine stabile mentale Verfassung. Informationen zur optimalen Vorbereitung findest du zum Beispiel unter www.wandern.ch.
2 Gedanken zu „Eine Nacht in den Bergen“
Cool, durftest Du die Magierin in Dir kennenlernen.
🙂 Find ich auch!