Dein digitales Lagerfeuer
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Ein Lob der (frühlingshaften) Wiederholung

Huch, der Frühling ist wieder da

Dieser Tage habe ich mal wieder eine jener schlichten Erfahrungen gemacht, die mich in den Zustand des staunenden Fragens versetzen: Auf dem Weg ins Büro überkam mich eine tiefe und tröstliche Freude. Es zwitscherte, spross, leuchtete und duftete. Frühlingserwachen, und zwar nicht nur da draussen um mich herum, sondern zeitgleich in mir. Ein kleiner, achtsamer Moment war es, der mich fragen liess:

Warum nutzt sich die Frühlingserfahrung nicht ab?

Es ist nun schon der 53. Frühling, den ich erlebe. Und wieder bleibe ich stehen, lausche, spüre, schaue hin, atme tief durch und lächle.

Komisch – ich kenne das doch alles zur Genüge! Wie kann der sich wiederholende Frühling so abnutzungsresistent sein, dass er mich jährlich verzückt?

Anscheinend gibt es unterschiedliche Arten von Wiederholungen.

Nervige Wiederholungen

Der Fächer an unangenehmen Wiederholungen entfaltet sich von störend über langweilig bis hin zu pathologisch. Wenn sich der Chef ständig meint, wiederholen zu müssen, stöhnen die Mitarbeiter:innen innerlich. Für manche mag ein klassisches Musikstück mit zu vielen Wiederholungszeichen eine echte Geduldsprobe sein.

Entfremdende Wiederholungen

Eintönig werden die getakteten Handgriffe im durchrationalisierten Produktionsbetrieb und lullen die Freude an der Arbeit ein. Begegnungen mit Menschen, die immer dieselbe alte Leier spielen, fallen mir schwer. Und schrecklich, wenn ein Bekannter bis zu acht Stunden pro Tag gefangen ist in der Endlosschleife seiner Zwangsgedanken.

Etwas Neues bitte statt dasselbe nochmal

Es sind wohl die aufgezwungenen, automatisierten Wiederholungen, die wir als lebenshemmend erfahren. Sie widerstreben dem modernen Lebensgefühl, wenn es sich am Originellen, Singulären und Neuen orientiert.

Wiederholung dagegen steht für Kopie, Stillstand und die ewige Wiederkunft des Gleichen: «Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.» (Nietzsche)

Wenn sich etwas wiederholt, staut sich das Leben, weil die Zeit in Richtung Zukunft nicht mehr abfliessen kann.

Für alle diejenigen, die nach Inspiration, Kreativität, Transformation und Innovation fragen, kann Wiederholung nicht viel Gutes bedeuten.

Der Frühling klont sich nicht

Warum aber erlebe ich den Frühling so ganz anders, so lebendig und lebendigmachend?

Er ist zwar eine Wiederholung aller Frühlinge vor ihm, aber definitiv nicht derselbe wie letztes Jahr. Die Zeit dazwischen macht den Unterschied.

Ökokatastrophe, Pandemie und Krieg offenbarten, wie gefährdet und gar nicht selbstverständlich das Leben ist. Das vergangene Jahr liess mich spürbar älter werden, und der Winter setzte mir mit nasser Kälte zu.

Der Frühling fällt in eine andere Gegenwart, und das gibt seiner Wiederholung ein Moment des Neuen. War er jemals so trotzkräftig wie jetzt? So strotzend vor Leben und so zukunftsmutig?

Sich wiederholen, um sich wieder zu holen

Der Wiederholungseffekt des Frühlings ist, dass er mich wieder holt, nämlich hinter dem Ofen hervor.

Ist es denkbar, dass wir Ähnliches erleben, wenn wir Erfahrungen und Handlungen, die wir selbst einmal gemacht haben, wiederholen?

Ohne hier philosophisch abzuheben, aber für Kierkegaard spielt die Wiederholung eine entscheidende Rolle im Selbstwerdungsprozess des Menschen. Ungefähr und noch abstrakt beschrieben: Ich erinnere mich an das Vergangene, aber nun so, dass ich es wiederholend in die Gegenwart nehme. Dadurch gewinnt es eine neue Qualität und verändert mich samt meines Selbstentwurfs.

Übung macht den Meister

Ich denke an die oft mühsame Wiederholung, durch die wir zu Spieler:innen, Handwerker:innen und Künstler:innen aller Art werden. Sie ist nicht die Garantie, aber doch die notwendige Voraussetzung dafür, dass etwas Gutes, Sinnvolles und Schönes erschaffen und wirksam wird.

Alte Liebe rostet nicht

Ist die Wiederholung am Ende das Geheimnis der wachsenden Liebe?

Sich gegenseitig erinnern, ohne melancholisch in der Vergangenheit zu verharren. Stattdessen die Liebe einmal mehr und mit demselben Menschen wiederholen, mutig, weil unter anderen, schwieriger oder älter gewordenen Bedingungen.

Auch hier keine Garantie, aber die Möglichkeit, neue Tiefen der Liebe zu ergründen und zu einem Liebenden zu werden.

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