Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Die Angst, zu wenig woke zu sein

Hat Sophie Passmann tatsächlich Schwarze Aktivist*innen gedisst, oder wurde sie nur missverstanden? Auf Twitter gab es kaum ein anderes Thema die letzten 24 Stunden. Die einen wussten es schon lange: Eigentlich ist die 28-jährige deutsche Autorin innerlich ein «alter, weisser Mann», weil sie sich keinen Deut um die Lebensrealität von weniger gebildeten, weniger privilegierten Menschen schert. Die anderen ärgern sich über den «woken Mob», der Passmanns Intelligenz nicht versteht und jetzt wegen angeblich aus dem Zusammenhang gerissenen Aussagen über sie loszieht.

Es geht um ein Interview in der Zeitschrift «annabelle». Unter anderem negiert Passmann darin den Wert, den das Teilen persönlicher Diskriminierungserfahrungen in öffentlichen Diskursen hat, konkret z. B. in Bezug auf Rassismus. «Da ist meiner Meinung nach der Erkenntniswert gleich null.»

Die Logik von Social Media

Um überhaupt zu den zu kontroversen Aussagen im Interview zu gelangen, muss man 12’000 Zeichen darüber lesen (das entspräche etwa vier A4-Seiten), wie Passmann arbeitet, dass eine Stylistin für sie die Outfits aussucht und sie gerne pünktlich zu Verabredungen erscheint. Nicht langweilig, sondern vor allem in Bezug auf Frauenrollen durchaus interessant. Aber doch für einen Onlinetext einigermassen lang und anstrengend.

Doch das ist in der Logik von Social Media egal. Die brisanten Aussagen werden markiert und als Screenshot in bekömmliche Portionen geteilt, das reicht.

Dass Aktivist*innen bald einmal gegen die heiklen Aussagen im Interview protestierten und sie zu Recht als problematisch einordneten, ist zu begrüssen. Natürlich schloss sich aber schnell ganz Twitter und Instagram der Empörung an, Hunderte von Menschen, die das Interview gar nicht oder nur so halb gelesen hatten.

Fashion, Popkultur und Selbstironie

Einigermassen gebildete, einigermassen junge und einigermassen woke Menschen wie ich kennen und mögen Sophie Passmann. Sie steht für Intelligenz und Unterhaltung gleichzeitig. Man schaut und hört ihr gern zu, ihre kultigen Wochenrückblicke sind süffig, gespickt mit Fashion, Popkultur und Selbstironie.

Ihre offensichtlich simplifizierenden Aussagen und die Kritik daran brachten uns nun in eine unangenehme Lage: Sind wir jetzt auf der Seite der BIPoC-Aktivist*innen, was natürlich korrekt wäre («BIPoC» steht für «Black, Indigenous, People of Color» und ist eine Selbstbezeichnung von Menschen nicht-weisser Hautfarbe)? Oder nehmen wir Sophie Passmann in Schutz, die mit ihren feministischen Aussagen und Engagements durchaus auch wichtige Anliegen vertritt (am bekanntesten mit der Moderation der ZDF-Kurzdoku «Männerwelten»)?

Tun wir es uns überhaupt an, das ganze Interview zu lesen und uns zu bemühen, die Kritik daran wirklich zu verstehen?

Einzelne Twitter-User*innen merkten schon sehr bald an, dass ein Grossteil der Kritik nicht fundiert und der Shitstorm völlig überzogen war. Doch vorsorglich klickten viele einfach mal auf der einen oder anderen Seite «like» und retweeteten vielleicht sogar etwas, das ihnen einleuchtete.

Zum Glück hat Sophie Passmann inzwischen selber zugegeben, die Tragweite ihrer Aussagen nicht verstanden und das Interview zu leichtfertig freigegeben zu haben. Damit sind all diejenigen moralisch aus dem Schneider, welche die betreffenden Abschnitte trotz mehrmaligen Lesens nicht eindeutig einordnen konnten.

Was zum eigentlichen Problem in der Causa Passmann führt:

Der Angst, zu unwissend zu sein, trotz aller Bemühungen um political correctness und Wokeness Fehler zu machen, und dafür Kritik zu ernten.

Und zwar auch in meiner einigermassen gebildeten, einigermassen woken und einigermassen jungen Bubble.

Überfordert mit woken Begriffen wie «BIPoC» und «TW/CN»

Die meisten sagen eben nicht trotzig: «Das wird man doch noch sagen dürfen!» Sondern sie sagen lieber gar nichts mehr. Wer mit Begriffen wie «BIPoC», «aromantisch» oder Kürzeln wie «TW/CN» überfordert ist, hat längst abgehängt. Man hat schlicht und einfach keine Zeit, keine mentale oder emotionale Kapazität neben dem normalen Alltag, um sich in diese Richtung zu bilden. Zu Fact-checken, wenn man ein Like gibt, und sich eine differenzierte Meinung zu bilden.

Das ist die privilegierte Seite, die es sich aussuchen kann, wem sie die eigene Aufmerksamkeit widmet. Betroffene können sich nicht aussuchen, ob sie die Müdigkeit und Anstrengung, die Diskriminierung für sie im Alltag bedeutet, auf sich nehmen wollen oder nicht.

Es gehört zu Social Media, dass Menschen über Dinge streiten, von denen sie keine Ahnung haben. Auf Twitter sind alle ein bisschen Virolog*innen, Klimawissenschafter*innen und Psycholog*innen.

Doch bei Anliegen der political correctness erhält diese Logik eine weitere Dimension: Wir urteilen über die Erfahrungen anderer Menschen. Dabei wäre von uns erst einmal einfach gefordert, sie als andere Lebensrealität wahrzunehmen. Was Sophie Passmann im Interview sagt, dass bei solchen Geschichten der «Erkenntniswert gleich null» sei, halte ich für absolut falsch. Aber manchmal kann man auch einfach zuhören, anstatt gleich eine Meinung zu haben.

Jeder zehnte Post, jeder zehnte Account

Ich weiss keine Lösung dafür. Aber mir ging beim Nachdenken über die Problematik etwas durch den Kopf, was im Umgang mit Social Media allenfalls hilfreich wäre.

Im Christentum wie auch in anderen Religionen gibt es das Prinzip des «Zehnten». Es ist sehr alt und bedeutet, dass der zehnte Teil der Ernte oder des Einkommens an Gott zurückgegeben wird.

Weil Gott kein Essen braucht und auch kein Geld, wird der «Zehnte» entweder an die Kirche gespendet oder direkt an Bedürftige weitergegeben. Vor allem in Freikirchen, die sich nicht über Kirchensteuern finanzieren, hat das Prinzip nach wie vor einen festen Stand.

Zehn Prozent des Einkommens direkt und ausschliesslich einer einzelnen kirchlichen Organisation zukommen zu lassen, mag in gewissen Fällen fragwürdig sein. Dennoch halte ich das Prinzip für gesund, regelmässig zu üben, sich von einem gewissen Teil des eigenen Einkommens zu trennen und zu teilen.

Das Prinzip könnte auch auf das Teilen von Privilegien angewendet werden.

Wäre es nicht eine Möglichkeit, wenn wir schon auf Social Media sind, den zehnten Teil unserer Aufmerksamkeit und unserer Reichweite Menschen zur Verfügung zu stellen, die unser gesellschaftliches und wirtschaftliches System benachteiligt? Deren Perspektiven ausgeblendet werden, die im Alltag mehr Behinderungen erfahren als die Mehrheit der Gesellschaft, deren Gesichter, Körper oder Identitäten der Algorithmus nicht bevorzugt. Deren Inhalte schwerer zu verdauen sind, weniger unterhaltsam, weiter entfernt von der eigenen, bequemen Bubble.

Es gibt durchaus Accounts, die niederschwellig Bildung vermitteln zu Themen wie Rassismus, Feminismus, Ableismus (Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen) etc. Man müsste also nicht einmal die Plattform verlassen, um sich zu interessieren und portionenweise den eigenen Horizont zu erweitern.

Oder, wie ein beliebter Insta-Slogan lautet: «Für mehr Realität auf Instagram».

 

Folgenswerte Accounts wären zum Beispiel der von Sarah Vecera, die aufzeigt, wo es in der Kirche Rassismus gibt. Oder von Toni Dedio, der körperlich behindert ist, queer und angehende Lehrperson für Englisch und Religion. River, Gast in den letzten drei Episoden des RefLab-BuchVlogs, informiert mit viel Geduld und Zeitaufwand über das Leben als nonbinäre Person mit Endometriose. Und Benjamin Herrmann ist trans, angehender Pfarrer und setzt sich in Zürich für LGBTIQ+ Anliegen ein. 

Foto: Unsplash/Mika Baumeister

2 Gedanken zu „Die Angst, zu wenig woke zu sein“

  1. Ein schöner, differenzierender Text, vielen Dank! Die Idee mit dem Zehnten könnte man übrigens weiterspinnen: Wie wäre es, wenn wir 10% all der Dinge, die wir unbedingt sagen, schreiben, posten, liken wollen, einem “heiligen Schweigen” opfern würden? Ich fange gleich mal an.

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    • Lieber Johann, das Feedback von dir freut mich sehr. Und interessante Idee mit dem Schweigen. Erinnert mich ans Social-Media-Fasten, das einige in der Passionszeit machen. Herzliche Grüsse!

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