Der Disability Pride Month feiert die Stärke von kranken und behinderten Menschen. Dieser Text handelt von Stolz, Akzeptanz und von einem neuen Verständnis von Heilung.
Disability Pride Month
Es ist Juli, mein Geburtsmonat und «Disability Pride Month». Nach der LGBTQAI-Community sind nun wir Behinderte dran, uns stolz der Welt zu zeigen. Worauf ich besonders stolz bin: auf die Heilungskräfte, die gerade in diesem Jahr in und an mir wirken.
Heilungs-(Miss-)Verständnisse
Es ist nicht selbstverständlich, dass ich darauf stolz bin. Ich bin geprägt von einem pfingstlich-charismatischen Verständnis von «Heilung».
Dieses besagt, dass letztlich nur Gott heilen kann und dass der Glaube Voraussetzung, Bestandteil und Folge von Heilung ist.
Heilungen und Wundertaten werden stark betont und gelten als übernatürliche Demonstration göttlicher Vollmacht.
Ich sehe das heute sehr kritisch.
Im Namen der Heilung
Um meine Erkrankungen loszuwerden, habe ich vieles ausprobiert: Ich besuchte «Healing-Rooms» (Räume, wo für Kranke und Behinderte gebetet wird, damit sie durch ein göttliches Wunder gesund werden).
Ich ging an Heilungsveranstaltungen mit «christo-zentrischen Heilern» (das gibt’s wirklich). Ich liess mir Hände zum Segen auflegen, die Stirn mit Öl salben und vieles mehr.
Da alles nichts half, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder mein Glaube war zu klein oder «böse Mächte» verhinderten die Heilung.
So liess ich «Befreiung» an mir durchführen (eine mildere Form von Exorzismus) und zerstörte «dämonische» Gegenstände (meine hawaiianische Tiki-Sammlung aus den 60er Jahren und meine Erstpressung von Led Zeppelins Album «IV» schmerzen mich bis heute).
Gebracht hat mir das alles langfristig nichts. Ich blieb krank.
Behinderung und Krankheit als Defizit
Meine Geschichte ist jedoch nicht nur programmatisch für charismatische Freikirchen:
Viele andere Denominationen, Religionen, Kulturen, die Esoterik und auch Teile der Gesellschaft, betrachten Behinderung und Krankheit defizitär.
Sie müssen überwunden oder, besser noch, gänzlich verhindert werden. Angestrebt wird ein mythisch-ominöser Ursprungszustand von Ganzheit und Vollkommenheit.
Schafft man das nicht, hat man versagt.
Unbeabsichtigte Abwertung Betroffener
Christlich gesprochen manifestiert sich der «Sündenfall» in entzündeten Gliedern, Knochenschwund und Gendefekten . Eine riesige Gruppe [1] kranker und behinderter Menschen wird zum Inbegriff der gefallenen, von Gott bestraften Schöpfung.
Die wenigsten haben dabei die Absicht, kranke und behinderte Menschen zu diskriminieren.
Trotzdem geschieht genau das. Der betroffene Mensch und oft auch seine Angehörigen [2] werden abgewertet.
Erinnert er durch seine nicht überwundenen Krankheiten oder Behinderungen so unangenehm lästig an die eigene Endlichkeit? Konfrontiert die unerreichbaren Ideale? Sind es Berührungsängste oder geht es um das Geld?
Drei Reaktionen für die Betroffenen
Betroffene werden so nebst der belastenden Komplexität ihrer Situation noch zusätzlich mit Schuldgefühlen, Scham und Minderwertigkeit beladen.
Ihnen bleiben drei Dinge:
- Verdrängung als Schutzmechanismus und damit zwangsläufig die weitere und oft noch verzweifeltere Suche nach Heilung.
- Resignation und Kapitulation, die oft mit enormer zusätzlicher psychischer Belastung einhergeht.
- Flucht aus dem religiösen System und Dekonstruktion der alten Glaubenssätze, was oft auch bedeutet, den Glauben an Gott komplett zu verlieren.
Ungute Heilungsverständnisse dekonstruieren
Ich dekonstruiere mein religiöses und gesellschaftliches Verständnis von Krankheit und Behinderung seit einigen Jahren. Als Methodistin fand ich unter anderem durch das im Methodismus zentrale Konzept der «christlichen Vollkommenheit» einen überraschenden Zugang zu Ganzheit und Wiederherstellung.
Eine kurze Definition dieses Begriffs:
Vollkommenheit ist das, was Christmenschen anstreben, nämlich immer mehr zu so werden, wie Gott es sich für uns Menschen gedacht hat.
Versöhnte, befriedete, liebende und hoffnungsvolle Menschen, die damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umwelt verändern. [3]
Behinderte Vollkommenheit!
Nur: Was tut ein nach medizinischen, gesellschaftlichen und teils auch christlichen Standards offensichtlich unvollkommener, weil kranker und behinderter Mensch mit diesem Gedanken?
Genau, er geht ihm nach:
Wir sind nicht nur gut, sondern SEHR gut!
Die Schöpfungsgeschichte spricht davon, dass wir als Abbilder Gottes sehr gut geschaffen sind – nicht gebrochen oder fehlerhaft, sondern sehr gut.
Das gilt für Menschen mit Migräne, einem künstlichen Darmausgang oder einer Körperdysphorie genauso wie für mich.
Wenn Vollkommenheit, oder, wie ich es gerne moderner ausdrücke: Ganzheitlichkeit unser (christliches) Streben sein sollte, dann muss ich lernen, mich als Ganzes anzunehmen, so wie ich vom Schöpfer geschaffen wurde:
Als Fragment mit vielen Facetten, die auch Altern, Leiden und Erkranken miteinschliessen.
Allesamt heilige Fragmente
Ich wurde nicht als Gottheit erschaffen, sondern als Mensch.
So muss ich mich in meinem Streben nach Ganzheit nicht an Gott orientieren, denn mein Ziel ist es nicht zum Gott zu werden. Ich bin überzeugt: Christliche Vollkommenheit meint keinen metaphysischen Perfektionsübermenschen.
Gott ist weder eugenisch noch ableistisch. Warum sind wir es dann?
Ich orientiere mich viel mehr am Menschen Jesus, dem heiligen Fragment:
dem weinenden, herzlich lachenden, feiernden, trauernden, tobenden, witzigen, leidenden, liebenden, menschlichen, alternden, lebenden und sterbenden Jesus.
Ein gekreuzigtes Gotteskind
Das Christentum kennt kein perfektes Gotteskind, nur ein gekreuzigtes.
Und für mich gibt es nur diesen einen, der einer von uns war und der die Summe aller seiner Teile letztendlich akzeptierte, integrierte und mir damit immer mehr zum Vorbild wird.
Und das Christentum verbreitete sich ja gerade dadurch: Durch die Schwäche, die zur Stärke wird, durch diese Bewegung von unten, durch den Versehrten, sich ungeschönt pragmatisch Offenbarenden, durch den «Ich bin, der ich bin».
Das wahre Heilungswunder
Darin liegt für mich das wahre Heilungswunder: Es ist die Akzeptanz des Ist-Zustandes, der Trauer, des Leides, der Unveränderlichkeit oder der Gleichzeitigkeit der Dinge.
Ich ändere, was ich ändern kann. Was nicht in meiner Macht steht zu ändern, versuche ich als solches anzunehmen.
Mein Blick richtet sich weg von diesem rückwärtsgewandten Mythos einer «ursprünglichen Perfektion» und weg von dieser sehnsuchtsgeschwängerten Zukunftsvision eines kaum zu erreichenden, mich ins Burn-Out treibenden Hyperideals.
Ich richte meinen Blick aufs Jetzt und entbinde mich von falschen Idealen.
In der Akzeptanz begegnet mir Gott
Das wahre Wunder der Heilung heisst Akzeptanz und in ihr begegnet mir von Neuem Gott – um und durch mich, in mir und von aussen an mich herantretend, mir Nahe kommend, mich versöhnend, tröstend und kraftgebend, immer wieder.
Das mein Körper schmerzend bleibt, hat nichts mit einer (göttlichen) Trennung zu tun. Im Gegenteil. Wir sind uns darin so ähnlich, Gott und ich.
PS. Übrigens läuft im Hintergrund gerade Led Zeppelin – IV. Ich habe zwar die Erstpressung nicht mehr, aber dafür jetzt die CD…
Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz und selbst betroffen von einer multisystemischen Körperbehinderung. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und ihre eigenen Erfahrungen damit. Im RefLab Podcast Stammtisch «Inklusion fängt bei der Sprache an» spricht sie mit der Kommunikations- und Inklusionsexpertin Saphir Ben Dakon. Als «die fromme Häretikerin» postet Sarah regelmässig Illustrationen und Texte.
[1] In der Schweiz und in Deutschland sind insgesamt ca. 9,4 Millionen Menschen von Krankheiten oder Behinderungen betroffen. Die Dunkelziffer ist deutlich höher.
[2] Zum Beispiel Eltern, die sich für ein Kind mit Trisomie 21 entscheiden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind Trisomie 21 hat, liegt bei 1:500, andere Trisomien sind noch seltener. Studien zeigen, dass 90 Prozent sich zur Abtreibung entscheiden, wenn vorgeburtliche Tests eine potentielle kognitive Behinderung anzeigen. Pränatale Diagnostik ist für Kassen günstiger als ein behindertes Kind.
[3] Im Methodismus unterscheidet man zwischen Heiligung und Vollkommenheit: Heiligung ist ein Gnadengeschenk, während Vollkommenheit aktiv angestrebt wird. Gute Werke werden sowohl als Ausdruck des Glaubens wie auch als Mittel, um Gott im Alltag zu erfahren, betont. Die weltweite methodistische Kirche verfügt über ein einzigartiges Soziales Bekenntnis und Soziale Grundsätze, jedoch kein eigenes Glaubensbekenntnis.
4 Gedanken zu „Das wahre Heilungswunder – Gedanken zum Disability Pride Month“
Ja, in den pfingslerischen und charismatischen Kreisen wird doch vieles recht eindimensional gesehen.
Das Problem aller Menschen ist es, dass zunächst immer in der Außenwelt “das Leben”, das Glück gesucht wird. Erst durch negative Erfahrungen wird man u.U. darauf aufmerksam, dass es da nicht zu finden ist. Je mehr man das begreift, um so gleichgültiger kann einem diese in Bezug auf sich selbst werden.
Deshalb können besonders behinderte Menschen Frieden, Freude, Glück – also Gottes Verheißungen, in sich finden, und das ist viel mehr als äussere Gesundheit und Anerkennung.
So ist es auch ein Mißverständnis, dass das Streben nach Vollkommenheit Stress verursachen könnte. Das Gegenteil ist der Fall. Denn Vollkommenheit wird durch immer tieferes Loslassen, also Entspannung bis in die Tiefen eines angespannten Körpers erreicht. Das ist der Weg des wahren Heils, den wohl weder Pfingstler, Charismatiker oder sonstige Christen wirklich kennen. Für diese Tiefenheilung, was das Streben nach Vollkommenheit ist, braucht man, wie es früher hieß, Abgeschiedenheit von den Menschen, in-Ruhe-Gelassen-werden von der Betriebsamkeit des allg. menschlichen Lebens.
https://manfredreichelt.wordpress.com/inhaltsverzeichnis/
Sorry Manfred, wenn Du so über Christen sprichst, brauchst Du noch ein wenig Tiefenheilung …
Danke für diesen persönlichen Einblick in deinen Prozess, mit dem spannungsreichen Heilungsthema umzugehen. Sehr inspirierend! Ich wünsche mir eine Gesellschaft , die selbst so heil ist, dass ein wie auch immer geartetes “Anders Sein” (eben auch körperliche oder physische Gebrechen) nicht als Problem und Defizit gesehen wird. Das ist in unserer leistungsorientierten Welt sicher eine Utopie. Umso mehr sollte es in der Kirche im Umgang miteinander sichtbar werden. Das bezeugt mindestens so stark “mehr Himmel auf Erden” wie ein Heilungswunder.
Herzlichen Dank für diesen Text. Es berührt mich zutiefst!!! Stecke auch in diesem Dilemma. Deine Worte geben mir Kraft und Zuversicht. Ich darf meinen Weg mit Gott gehen, auch mit meinen Gebrechen. Das ist so wohltuend und ich darf SEIN, und muss mich nicht verrenken. Selten so einen differenzierten Text gelesen! Herzlichen Dank dafür ❤️