Ich habe die «innere Uhr» zu meiner eigenen Überraschung nie wirklich ticken hören – oder höchstens sehr leise. Ich weiss nicht, ob ich zu beschäftigt war oder zu verträumt. Oder ob mir etwas Entscheidendes fehlt, über das viele andere Frauen scheinbar verfügen: der unbedingte Wille, ein Kind zu bekommen; der Drang sich, oder genauer: die eigene Genstruktur, fortzupflanzen.
Kein schepperndes Weckermodell alarmierte mich. Es gab auch kein geisterhaftes Erwachen wie durch jene Standuhren damals in der Wiener Studentenwohnung. Die alten verschnörkelten Uhren gingen manchmal nachts von selbst los, was ziemlich gespenstisch war.
Aber natürlich war da das Bewusstsein über ein begrenztes Zeitfenster der potenziellen körperlichen Gebärbereitschaft.
Und dann war der Zeitpunkt der potenziellen Gebärfähigkeit irgendwann überschritten und es war klar: Aus meinem Körper wird kein Kind in diese Welt kommen.
Die letzte meiner Art
Für manche ist Kinderlosigkeit ein brüllender Schmerz, für andere eine vage Melancholie. Und auch das gibt es: kinderloses Glücklichsein.
Als Kinderlose kann ich weder wissen, was ich verpasst habe, noch, was mir erspart geblieben ist. Ich kann nur erahnen, wie es sein mag, Kinder zu «haben» – oder schöner: Kinder eine Weile bei ihrer Entwicklung begleiten zu dürfen.
Die meisten Mütter, die man fragt, beteuern, dass sie trotz entsetzlicher Geburtswehen («Du, ich hatte den Eindruck, mein Körper zerreisst von innen her.») die Erfahrung des Mutterwerdens und -seins niemals missen wollten.
Eingeprägt hat sich mir die Beschreibung eines Vaters, der eine Art Erleuchtung in dem Moment erlebte, als er seinen neugeborenen Sohn Haut an Haut spürte: den winzigen Kinderkörper auf der rauen Männerbrust.
Einen anderen Vater habe ich tief bedauert. Er musste eine Weile immer nachts gegen drei oder vier Uhr morgens aufstehen, weil sein Töchterchen dann zu spielen wünschte. Er trägt es seinem inzwischen erwachsenen Kind aber nicht nach, sondern ist stolz und liebt es innig.
Die Kultur- und gerade auch die Religionsgeschichte halten genügend Beispiele parat von Menschen, die, egal ob freiwillig oder unfreiwillig kinderlos, das Beste daraus machten. Und nicht nur das: die die freibleibende Seelen- und Liebesenergie auf hohe Ziele zu lenken verstanden.
In Schwächemomenten denke ich allerdings, dass ich auf einem toten Ast sitze oder vielmehr selbst dieser dürre Ast bin.
Ausgerechnet mit mir bricht eine sozusagen seit Adam&Eva bestehende Ahnenreihe ab. Keine Ur- und Ururenkel werden mein chaotisches digitales Bildarchiv aufräumen und meine Fotos wird niemand so werstschätzen wie ich es mit Aufnahmen meiner Ahnen in Schwarzweiss und Sepia mache.
Auf jeden Fall bin ich froh, in einem Zeitalter und einer Kultur leben zu dürfen, wo kinderlose Frauen nicht stigmatisiert werden. In der Schweiz leben zurzeit rund dreissig Prozent der Erwachsenen ohne Kinder. Rechtfertigungsdruck habe ich nie gespürt. In den Milieus, in denen ich mich vornehmlich bewegte, müssen sich eher Frauen mit Kinderschar rechtfertigen; weil sie potenzielle Möglichkeiten der Selbstentfaltung und des Karrieremachens beschneiden.
Kurzzeitig schwanger
Einen Schwangerschaftsabbruch hätte ich nicht erleben mögen. Schon die Vorstellung, in die Gewissens- und Entscheidungsnot zu kommen, war so entsetzlich, dass ich mir als junge Studentin vorsorglich die Pille verschreiben liess, ohne einen Freund zu haben.
Eine kategorische Entscheidung gegen das Kinderkriegen habe ich nie gefällt. Ich fand es gut, meinen Körper und das Schicksal für mich entscheiden zu lassen. Es ist ja tatsächlich Schicksalsmacht im Spiel, etwas, das mich übersteigt. Ich wartete auch ab aus Sorge, mir ein Kind (noch) nicht wirklich leisten zu können, ihm und mir nicht ausreichend Sicherheit bieten zu können.
Irgendwann, vielleicht zu spät, stoppte ich Verhütungsvorkehrungen, weil ich nun aktiv schwanger werden wollte – und es für kurze Zeit sogar war: Allerheiligste Erfahrung!
Ich war nun empfänglich für Empfängnis
Ich wollte aber nichts forcieren. Eine In-Vitro-Fertilisation-Prozedur, die manches Paar aus dem Bekanntenkreis an den Rand des Nervenzusammenbruchs führte, kam nicht in Frage.
Die Einsicht, dass es wohl nichts mehr werden würde mit mir und Kindern dämmerte. Als es mehr und mehr Gewissheit wurde, sauste kein Hammer dumpf auf meinen Kopf herab und ich verfiel nicht in Depressionen. Ich war im Gegenteil fast erleichtert, entbunden zu sein von der unklaren Situation.
Als über 40-Jährige verlor ich von mir aus das Interesse an dem Thema. Eine sogenannte Spätgebärende und Risikogebärende wollte ich nicht sein, auch wenn die Medizin die Lage heute auch bei Älteren besser im Griff zu haben scheint. Im Rückblick denke ich, dass ich wahrscheinlich zu lange gewartet habe; dass das biologische Zeitfenster enger war als gedacht.
Es schwingt für mich beim Thema Kinderlosigkeit tatsächlich beides mit: ein wenig Sentimentalität und Erleichterung. Von «Kinderfreiheit» in einem empathischen Sinn würde ich, weil ambivalente Gefühle im Spiel sind, nicht sprechen.
Für Paare, die das Kinderkriegen einigermassen gelassen ad acta zu legen meinen, kann das Thema im Zusammenhang mit Midlife-Krisen später wieder virulent werden. Ohne Zweifel bleiben durch Kinderlosigkeit potenzielle Lebensmöglichkeiten ungelebt. Und dann ist da ja auch noch der wohl in Tiefenschichten des Unbewussten reichende Wunsch, in Kindern weiterzuleben.
Endzeitgefühle
Noch für unsere Gross- und Urgrossmütter bedeutete Gebären den nicht unwahrscheinlichen Tod von Mutter, Kind oder beiden. Schwangerschaften waren lebensgefährlich.
Man kann diese uralte Tragik aus den Lebensdaten auch meiner Ahnen ablesen. Sozialer Druck drängte Frauen dennoch in die Mutterrolle. Zehn und mehr Kinder waren am Land keine Seltenheit. Abtreibungen waren geächtet. Wie unendlich viel leichter war es für meine Generation, fast schon banal.
Heute braucht, jedenfalls in unseren Breiten, keine Frau übermässige Angst vor negativen Schwangerschaftsverläufen zu haben noch sich zur Vermehrung gedrängt fühlen. Dafür ist ein anderer Druck entstanden. Der neue Druck besteht darin, für den Planeten auf Kinder zu verzichten. Für Frauen hat die innere Uhr gewissermassen kollektiv zu ticken aufgehört.
Kinderlosigkeit als paradoxes Zukunftsmodell
Kürzlich wurde die Marke von acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten überschritten. Für die Erde sind weitere Menschenkinder schon lange nicht mehr der Segen aus biblischen Zeiten. Ein der Gegenwart angepasster Schöpfungsbewahrungsauftrag müsste entsprechend lauten:
Seid nicht fruchtbar und mehret euch nicht!
Als Kinderlose kann ich mir sagen, ich lebe ein Zukunfsmodell; freilich ist es ein höchst paradoxes Modell. Global gesehen ist es besser, Bäume zu pflanzen als Kinder in die Welt zu setzen, die Auto fahren, fliegen und Kohlendioxid ausatmen.
Allerdings gilt es die Relationen im Blick zu behalten. Eine arme Familie, zumal im Global South, fällt der gekränkten Erde gewiss nicht zur Last. Während Ölkonzerne zu den ersten gehörten, die um den menschengemachten Klimawandel wussten und dennoch ihr destruktives Geschäftsmodell fortführten; und auch noch nachweisbar gegen warnende Stimmen aus der Klimaforschung lobbyierten.
Vor dem Hintergrund frühchristlicher Naherwartung konnte Familiengründung als überflüssig erscheinen. Heute sind es menschengemachte Ursachen, die im schlimmsten Fall in die Apokalypse einer unbewohnbaren Erde zu münden drohen. Dies überschattet zunehmend auch das Thema der Fortpflanzung. Wäre es besser, Enkel würden gar nicht geboren?
Das Argument, es sei gar nicht zu verantworten, Kinder in diese Welt zu setzen, ist nicht neu. Es wird aber, so scheint mir, immer selbstverständlicher gebraucht. So zu denken entbindet nicht von der dringenden Aufgabe, die Welt möglichst enkelfreundlich weiterzuvererben; egal ob an leibliche oder fremde Enkel, an menschliche oder anders-als-menschliche Kinder.
Vernabelt bleiben
Ich glaube zu begreifen, wie schmerzhaft es für Menschen sein kann, wenn die ersehnten leiblichen Kinder ausbleiben. Mich als Kinderlose tröstet der Gedanke der existenziellen Verbundenheit aller Wesen – und genau das verstehe ich unter Spiritualität. Durch das Kind in mir bleibe ich mit Kindern verbunden und als Kind der Erde bin ich sozusagen geboren und ungeboren [1]: weil weiter ver-nabelt. Und das heisst auch: Ich bin nicht allein, auch wenn es sich manchmal so anfühlt.
[1] Diesen Gedanken verdanke ich der Philosophin, Ökofeministin und Künstlerin Elisabeth von Samsonow; sie war unlängst mein Gast im Podcast TheoLounge: «Technik ist ein Mädchen».
Weiterführend zu dem Thema ist die Intitiative: kinderfrei leben – auch auf Instagram. Hier geht es Betroffenen darum, möglichst tabufrei über das Thema zu sprechen und sich auszutauschen.
Siehe auch die RefLab-Blogbeiträge «Keine Mutter sein» von Janna Horstmann, die meine Überlegungen angeregt hat, und: «Our body, our choice» von Evelyne Baumberger. Aus der Sicht eines Vaters hat Manuel Schmid auf das Thema reagiert mit dem Artikel «Vater sein».
Foto: Rodolfo Barreto auf Unsplash