«Hardest picture of all time»: Eine der frühesten Einordnungen kommt vom Dargestellten selbst. Donald Trump wertet das Foto, das ihn mit blutigem Ohr, erhobener Faust und wehender US-Flagge zeigt, als «härtestes Bild aller Zeiten».
Viele applaudieren, aber manche widersprechen auch. Da gäbe es ja wohl bedeutend härtere Bilder, etwa das Foto des nackten schreienden Mädchens nach einem Napalm-Angriff der US-Armee im Vietnamkrieg, lauten Kommentare zu Trumps X-Posting.
Hollywood-reif
Weitgehende Einigkeit aber herrscht darüber, dass die Aufnahme ein ikonisches Bild ist: der knapp der Ermordung entgangene Ex-Präsident mit entschlossener Miene zwischen Secret Service Agenten.
In der Tat: Hollywood hätte die Szene kaum eindrücklicher inszenieren können.
Während im Kino oder auf Theaterbühnen historische Szenen nachträglich verdichtet, ästhetisiert und gut ausgeleuchtet werden, malte hier die Realität ein filmreifes und wirkungsstarkes Bild.
Der Urheber, Evan Vucci, schoss das Foto Sekunden nach den Schüssen auf Trump. Es ist nicht das erste ikonische Bild des Pressefotografen. Für Aufnahmen der Proteste nach dem Tod von George Floyd wurde Vucci mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
In einem Interview mit der New York Post bemerkte Donald Trump zu dem Bild mit blutverschmiertem Gesicht:
«Viele Leute sagen, es sei das ikonischste Foto, das sie je gesehen haben. Sie haben recht und ich bin nicht gestorben. Normalerweise muss man sterben, um ein ikonisches Bild zu haben.»
Was ist ein ikonisches Bild?
Ikonisch steht für eine besondere religiöse oder pseudo-religiöse Aufladung. Ikonen im engeren Sinn sind religiöse Andachtsbilder.
Gläubige betrachten Ikonen als Medien einer mystischen, göttlichen Präsenz und schreiben ihnen ein Eigenleben zu, etwa dass die Bilder weinen oder bluten.
Nach dem Kunst- und Medientheoretiker Hans Belting («Bild und Kult») sind Ikonen Platzhalter für eine unsichtbare Präsenz; im Fall des Mandylion (laut Legende nicht von Menschenhand gemalte Christus-Ikone) spricht Belting von «Lebend-Maske». Die Betonung liegt auf der Ikone als lebendige Präsenz und nicht nur blosse Darstellung. Die wichtigste Vorlage der Heiligenikone, deren Bedeutung aus der liturgischen Praxis erwächst, sei das Totenbild.
Im Bild eines geliebten Verstorbenen ist für den verlassenen Menschen etwas von der verlorenen Person anwesend.
Im weiteren Sinn sind Ikonen Bilder, in denen sich Inhalte stark verdichten und das Dargestellte über sich hinaus verweist – und dadurch symbolisch lesbar wird. Ikonische Bilder fangen eine einzigartige Situation prägnant ein und werden Teil des kollektiven Bewusstseins.
Prägnant, also einprägsam, sind Bilder, die einen besonderen Moment und bemerkenswerte Emotionen festhalten und ihrerseits bestimmte Emotionen und Gedanken freisetzen; Bilder, die die Essenz einer Zeit, eines Ortes oder einer Person einzufangen scheinen und gerade dadurch einen überzeitlichen Status erlangen.
Instant-Ikonen
Dass ein Bild zur Ikone wurde, erwies sich früher erst im Laufe der Zeiten, durch ständige Wiederholungen. Im Social-Media-Zeitalter haben wir es dagegen mit Instant-Ikonen zu tun: Die ikonische Wirkung wird durch sekundenschnelle Vervielfältigung und globale Verbreitung potenziert.
Das Eigenleben der Bilder in Social Media ist ihre Viralität.
Während Ikonenmaler früherer Zeiten noch mit dem Anrühren der Grundierung des Bildgrundes beschäftigt wären, werden heute schon Interpretationen geliefert. Feeds bei X und anderen Social-Media-Kanälen sind voller Kommentare zu dem «ikonischen» Trump-Bild. Im Internet werden auch schon T-Shirts mit dem Attentatsfoto angeboten.
Die Wirkung optischer Medien verdankt sich dem Zusammenspiel des doppelten Charakters von Bildern: als Repräsentation und als Präsenz. Die Wirkung wird erhöht, wenn der besondere Moment in einer Weise eingefangen ist, die an bestehende Bildformeln anknüpft; dies können Darstellungskonventionen aus der Kunstgeschichte oder aus Film und Fernsehen sein.
Pathosformeln
Wie bei religiösen Ikonen, weisen auch massenmediale Ikonen eine gewisse Formelhaftigkeit auf. Mit dem Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg kann man von «Pathosformeln» sprechen.
Nach oben gereckte Fäuste, wehende Fahnen und Blut oder rote Farbe sind solche Pathosformeln.
Diese Elemente finden sich etwa auf einer der grössten Bildikonen der Kunstgeschichte, an die die Trump-Ikone mit blutendem Ohr optisch angelehnt erscheint: Das Gemälde «Die Freiheit führt das Volk» von Eugène Delacroix aus dem Jahr 1830.
Die Dreieckskomposition bzw. der pyramidale Aufbau der Darstellung der Revolutionsfigur Marianne von Delacroix vereint auf- und vorwärts strebende Dynamik bei gleichzeitig festem Gegründetsein.
Alle diese Elemente sind in dem ikonischen Trump-Bild mit blutendem Ohr wie durch Zauberhand binnen von Sekunden zusammengefallen. Und ein Profifotograf war just an einem Standpunkt platziert, von wo aus er diese Komposition idealtypisch einfangen konnte.
Realitätskonstruktionen
Das Wahrheits- und Realitätsempfinden wird heute stark von digitalen Medien mitgeprägt. Elektronische Medien kreieren eine eigene Wirklichkeit, die sich im Kopf des Betrachters entfalten kann.
Erst die Wirkung, das vielfältige Wahrgenommenwerden, zusammen mit einer bestimmten Interpretation lassen die Einordnung als ikonisch zu.
Dies geschieht unter Bedingungen von Social Media beinahe gleichzeitig mit der Bildproduktion, wie das Beispiel des Trump-Bildes eindrucksvoll belegt.
Bereits wenige Stunden nach dem versuchten Mordanschlag griff Trump das prägnante Bild für seine Wahlkampagne auf. Er wies sein Team an, das Foto mit der Aufschrift «Never Surrender» zirkulieren zu lassen – niemals aufgeben.
Wie es der Zufall so will: Nur wenige Stunden vor dem Attentat waren von Meta die Trump-Accounts auf Facebook und Instagram wieder vollumfänglich freigeschaltet worden. Nachdem Trumpianer 2021 das Capitol in Washington gestürmt hatten, waren die Konten blockiert worden.
Jetzt kann der Mann, der eine Niederlage in einer demokratischen Wahl nicht zu akzeptieren vermochte, auch diese Plattformen wieder zur Autofiktion und polarisierenden Politik nutzen.
Verbindung aus Opfer und Stärke
Was die Trump-Ikone mit blutendem Ohr und entschlossener Mine tatsächlich besonders macht, ist die Verbindung aus Opfer und Stärke. Etwas, das tatsächlich selten zu finden ist. In diese Richtungen gingen auch Deutungen aus seiner Anhängerschaft:
«Er blutet, aber er ist entschlossen.»
Ikonen haben einen religiösen Hintergrund, und gerade an diesem «ikonischen Bild» zeigt sich eine Tendenz zum Hagiografischen, als zur Heiligenlegendenbildung, sogar zur messianischen Aufladung. Etwa von einem Fan auf X:
«The bullet was for us but he was in the way and in way with full courage!»
«Die Kugel war für uns, aber er war im Weg und das voller Courage!»
Fragewürdige Heiligsprechung
Das Bild wird als Beleg genommen, «evidence», für die scheinbare Unbesiegbarkeit oder gar – von der Heldenverehrung zur Heiligsprechung ist der Weg oftmals kurz – als Zeichen wundersamer Rettung und göttlicher Erwählung:
«Nicht einmal Kugeln können ihn stoppen.»
«He’s the one! He’s the messiah!!», heisst es von Anhänger:innen auf X.
Eine viel beachtete Deutung lautet, Trump blute «für die Nation».
Hier kippen Deutungen ins Wahnhafte und Schräge. Christologisch gefärbte Bilder überlagern die Realität. Und sie verdecken in diesem Fall einen echten Helden: den Feuerwehrmann und Familienvater, der sich bei Trumps Wahlveranstaltung schützend vor seine Familie warf und dabei sein Leben verlor.
Dieser Mann und nicht Trump ist ein wahrer Held!
RefLab-Beiträge zu den US-Wahlen:
Nach der Trump-Wiederwahl fragt Evelyne Baumberger: Sind wir auf halbem Weg nach «Handmaid’s Tale»?
Johanna Di Blasi stellt fest, dass Donald Trumps politischer Weg dem Schema der «Heldenreise» folgt.
Jonas Simmerlein findet biblische Parallelen im TV-Duell Harris/Trump
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Zum ikonischen Bild des Trump-Attentats schreibt Kunstkritikerin Johanna Di Blasi
Thosten Dietz bei SRF: «Ein Wunder! Wie religiöse Trump-Fans diese Bilder lesen.»
Abbildungen: «Die Freiheit führt das Volk» von Eugène Delacroix, 1830, und Foto der US-Flagge von Donovan Reeves auf Unsplash