Neulich bin ich mit einem komischen Gefühl in der Magengrube aufgewacht. In der Morgenstunde, die Umrisse manchmal klarer sehen lässt, ging mir Folgendes durch den Kopf: Die neuen amerikanischen Machthaber unterstützen in Europa jetzt offen rechtspopulistische Parteien.
Und zwar Kräfte, zu deren erklärten Zielen der EU-Austritt gehört.
Im selben Atemzug drohen dieselben US-Machthaber Europa damit, sich aus der Friedenssicherung zurückzuziehen.
Atomschirm zuklappen
Just zu einer Zeit, wo in Europa wieder Krieg herrscht, also die Ansage:
Der amerikanische Atomwaffenschirm wird zugeklappt.
Europa soll sich allein um seine militärische Absicherung kümmern. Genau in dem Moment, wo eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik fühlbar eine existenzielle Notwendigkeit wird, wird das Einigungsprojekt also nicht nur von innen, sondern auch von aussen hintertrieben.
Ist das ernstgemeint oder Pokerspiel von Deal Makern, damit Europa noch mehr Waffen und Fracking-Gas in den USA einkauft?
Neue Form von Intervention
Die Rückzugsankündigung der kriselnden Supermacht ist weder neu noch überraschend. Die Verquickung mit der Unterstützung anti-europäischer Kräfte wie der AfD aber hat etwas Atemberaubendes – um nicht zu sagen: Frivoles.
Gleichzeitig verwundert es nicht: Da passt ideologisch, wenn auch nicht interessemässig was zusammen.
Europa steht spätestens seit der gerade in München zu Ende gegangen Sicherheitskonferenz wie bedröppelt da; wie ein Schulkind, dass seine (Militär-)Hausaufgaben nicht gemacht hat.
Kein Schutz, dafür offener Himmel
Ich stelle mir vor, wie ein Sonnenschirm mit der Ankunft der ersten Herbststürme zusammengeklappt und weggeräumt wird.
Dabei wäre es natürlich schöner, wenn der Schirm auch vor winterlichen Wetterkalamitäten schützen könnte.
Der atomare Schutzschirm über unseren Köpfen hat uns ruhig schlafen lassen. Man konnte in friedlicheren Zeiten sogar vergessen, dass er da ist. Man konnte vergessen, dass der Frieden ein geschützter Frieden ist, militärisch geschützt.
Geschützter Frieden
Und nun ist da plötzlich ein Gefühl, als würde einem ein Schirm weggezogen. Plötzlich ist da ein Gefühl von Atomschirmobdachlosigkeit.
Man begreift, es könnte auch über unseren Köpfen Hagel einsetzten, Geschützhagel. Und da wäre dann kein Schutz vor den Geschossen mehr. Zumindest so lange Europa keinen eigenen Atomwaffenschirm hinbekäme.
Dafür müssten allerdings Verträge gekündigt oder gebrochen werden.
Die Mehrheit der europäischen Nationen unterschrieb in der Vergangenheit Atomwaffensperr- oder Verzichtsverträge.
Abrüstung abrüsten?
Atomschirmobdachlosigkeit kann man fühlen, unabhängig davon, ob man Atomwaffengegner oder -befürworter ist.
Die christlichen Kirchen haben zur Atombewaffnung eine klare ethische und politische Haltung erarbeitet und unmissverständlich artikuliert.
Die Kirchen ächten Atomwaffen.
Das war nicht immer so. Noch in den 1950er-Jahren, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, galt die nukleare Abschreckung als «mögliche christliche Handlungsweise».
Die Atomwaffenächtung ist eine zivilisatorische Errungenschaft.
Von guten Mächten …
Später, als ein Beitrag zu dem Thema von mir bereits beschlossen war, kam mir ein Lied in den Sinn:
«Von guten Mächten treu und still umgeben» und «wunderbar geborgen».
Das Lied zum Bonhoeffer-Text; den wahrscheinlich letzten Zeilen, die der NS-Widerstandskämpfer vor seiner Hinrichtung zu Papier brachte. Die populärste Vertonung des beliebten Liedes ist die von Siegfried Fietz von 1970.
Das war eine Zeit, als die Atomkriegsgefahr wie auch die Friedensbewegung einen Höhepunkt erreichten.
Beim Lied «Von guten Mächten» höre ich das Flehen nach Frieden jetzt unwillkürlich mit.
… wunderbar behütet
Während noch so mächtige Player letztendlich keinen zuverlässigen Schutz bieten, verleihen die im Liedtext beschworenen guten Mächte innere Stärke.
Innere Stärke bedeutet, Mut zu schöpfen statt sich in apolitischer Resignation einzurichten oder dem Gefühl:
Es werden schon andere für mich kämpfen.
Ich sage das vor allem zu mir selbst, die ich zu lange in einer unpolitischen Zuschauerposition verharrte.
Atomwaffenfreie Welt
Eine atomwaffenfreie Welt ist möglich. Mit jedem Abrücken von Ausstiegserklärungen aber rückt diese Vision in die Ferne.
In Deutschland wird der Mahnruf «Wettrüsten ist Wahnsinn» inzwischen weitgehend Der Linken überlassen.
Die Schweiz strebt eine Welt ohne Kernwaffen an.
Den Atomwaffenverbotsvertrag der UNO (TPNW) aber hat die Schweiz bislang nicht unterzeichnet.
Atomwaffenächtung wird nicht falsch, nur weil wieder zum grossen Wettrüsten geblasen wird. Und sie bleibt auch dann richtig, wenn es schwerer fällt, dem Frieden zu trauen und das Gefühl existenzieller Bedrohung anschwillt.
Eine Welt wird nämlich nicht sicherer, wenn immer mehr und gigantischere Vernichtungswaffen angehäuft werden.
Kennst auch du das Gefühl der Atomschirmobdachlosigkeit? Und was ist deine Meinung zu den Thema? Hinterlasse gerne einen Kommentar.
Foto von James Adams auf Unsplash