Du fragst mich, ob alles okay sei.
«Mir wird immer ein bisschen schlecht, wenn es so schaukelt» sage ich. Meine Hände sind schwitzig. Aber das sage ich dir nicht.
Das Gestänge der Gondel, die mich den Wolken näherbringt, ist kalt. Windig ist es hier oben auch. Wenn das Nervensystem alarmiert ist, werden die Sinneseindrücke besonders intensiv. Ich hätte mir eine Jacke überziehen sollen.
Anleitung für Himmelfahrt
Für alle, die sich gerne mal in himmlische Sphären begeben und dabei die eigenen Grenzen überwinden. Für die, die auf der Suche sind, nach dem Himmel auf Erden.
«Warum machst du das denn überhaupt, wenn du Höhenangst hast?» Weiss ich auch nicht. «Testen, ob sie noch da ist, die Angst.» «Und?» «Jap, ist sie, alles wie immer.»
Du hattest mir mal wieder geschrieben. Dabei hatte ich mich gar nicht bei dir gemeldet. Mit Himmelfahrt habe ich nicht so meine Schwierigkeiten wie mit Karfreitag. Zumindest dachte ich das bisher.
Aber nun sitze ich also in einem Riesenrad, klammere mich an dem Gestänge fest und führe Selbstgespräche, um mich von der schwindelerregenden Höhe abzulenken, in die mich dieses Gefährt befördert. Ich versinke tiefer in der Sitzbank, die Gondel steigt höher Richtung Himmel. Also auf die Atmung konzentrieren und die Aussicht geniessen.
Mein nächster Versuch, mich den christlichen Feiertagen zu nähern, startet mit viel Adrenalin. Himmelfahrt. Heute dann mal wortwörtlich.
Erdanziehungskraft
Begib dich an den höchsten Punkt in dem Ort, in dem du lebst. Vielleicht ist es ein Turm, oder der Berg, den du zuletzt mit deiner Familie bestiegen hast, als du noch klein warst. Vielleicht aber auch das Riesenrad, das letzte Woche für den Jahrmarkt aufgebaut wurde, mit den blinkenden Lichtern. Suche dir einen Platz zwischen Himmel und Erde.
Ich mochte sowas noch nie.
In Freizeitparks war ich immer diejenige, die auf die Taschen aufgepasst hat, während sich alle anderen ein ums andere Mal in ein viel zu kleines Gefährt gequetscht haben, das auf Schienen, ohne Airbag, ohne Tür oder Schutzpanzer in schwindelerregende Höhen saust, um den Magen auf links zu drehen. Warum zur Hölle sollte ich das wollen?
Je weiter sich das Rad dreht, desto grösser wird meine Erdanziehungskraft. Desto mehr sehne ich mich nach festem Boden unter meinen Füssen, einem festen Stand, ohne den Kopf in den Wolken zu haben.
Die Erdanziehungskraft ist unbegrenzt, sie wirkt überall. Trotzdem versuchen Menschen seit jeher, sie zu überwinden. Der Astronaut James Lovell sagte nach 715 Stunden im All:
«Die Menschen auf der Erde begreifen nicht, was sie besitzen. Vielleicht, weil nicht viele von ihnen die Gelegenheit haben, sie zu verlassen und dann zurückzukehren.»
Wenn real existierende Kräfte ausser Kraft gesetzt werden, Menschen auf den Mond fliegen oder in den Himmel fahren, ist das mindestens irritierend.
Wenn du irgendwo zwischen Himmel und Erde bist, lies den Songtext «Welt der Wunder» von Marteria:
«Wir leben auf einem Blauen Planeten/ Der sich um einen Feuerball dreht/ Mit ‘nem Mond der die Meere bewegt/ Und du glaubst nicht an Wunder?/ Wir schicken Roboter auf reisen/ Bringt uns was Schönes mit/ Wir schrieben – lassen es in Flaschen treiben/ Bestimmt gibt’s ne’ Nachricht zurück/ Wir sind so weit auseinander/ Doch fühlen uns so nah/ Spreche deine Sprache nicht doch versteh jedes Wort/ Ich muss nur kurz an dich denken/ Das Telefon klingelt/ Es bleibt ein Mystischer Ort»
Es ist menschlich, das Denken über den eigenen Horizont auszudehnen. Wir sind unserer Realität entwachsen. Schon immer. Wir können uns so viel mehr vorstellen, als wirklich ist.
Manchmal müssen wir dafür die Erdanziehungskraft ausser Kraft setzen, um zu sehen, was alles möglich war, möglich ist und vielleicht noch möglich sein wird.
«Wir gucken bis zum Urknall/ Ich kann hören wie dein Herz tobt/ Egal ob wir fallen oder aufsteigen/ Du hast doch schon mal gewonnen/ Gegen Millionen die so waren wie du/ Und du glaubst nicht an Wunder?»
Wenn du so zwischen Himmel und Erde bist, wann hast du das letzte Mal Kräfte überwunden, die dich am Boden halten wollten? Von welchen Wundern träumst du?
Offenheit
Besuche ein Museum oder eine Austellung. Betrachte ein Kunstwerk. Nimm unterschiedliche Perspektiven ein. Welche Farben nimmst du wahr, welche Gefühle löst die Kunst bei dir aus? Bist du alleine oder sind andere Menschen mit dir dort?
Den Künstler Emil Nolde habe ich zum ersten Mal in meinem Theologiestudium kennengelernt. Wir waren mit einer Studiengruppe in seiner Austellung in Seebüll, um uns seine religiösen Bilder anzusehen.
Ich verliebte mich sofort in seinen expressionistischen Stil. Intensive Farben, leuchtende Landschaften.
Seine religiösen Bilder zeigen eine von der Geburt erschöpfte Maria oder einen blutenden, leidenden Jesus. Lebensnah und emotional. Zumindest für mich.
Wir wollten die Bilder inszenieren. Die Figuren leibhaft darstellen. Schauen, was uns die Figuren sagen und was sie bei anderen Menschen auslösen, in aller Offenheit.
In der Inszenierung machten wir uns bewusst: Mein Blick ist ein anderer als deiner. Du siehst anderes als ich in einem Bild. Es gibt nicht die eine richtige Lösung, die eine Interpretation, die eine Wahrheit. Nicht in der Kunst, aber auch nicht in den biblischen Geschichten.
«Die Kunst kommt vom Menschen und ist für den Menschen gemacht – nicht für die Experten. Ihre Formen bilden sich aus der lebendigen Liebe zum Leben. Sie verbindet die Menschen und gibt ein positives Lebensgefuhl. Die Kunst ist der Spiegel Gottes – der die Menschheit ist.» (Emil Nolde)
Offenheit heisst Sicherheit aufgeben. Offenheit lässt Interpretation zu. Geschichten werden weitergeschrieben und Bilder interpretiert. Nicht nur die Bilder Noldes, auch Himmelfahrt ist ein Bild, das einer Interpretation bedarf.
Lies den Ausschnitt aus «Opera aperta» von Umberto Eco:
«Werke bestehen hingegen nicht aus einer geschlossenen und festgelegten Botschaft, nicht aus einer eindeutig organisierten Form, sondern in der Möglichkeit für den Interpreten, sie verschiedenartig auszuführen, und sie präsentieren sich folglich nicht als abgeschlossene Werke, die danach verlangen, in einer gegebenen strukturellen Richtung aufgeführt und verstanden zu werden, sondern als ‹offene› Werke, welche der Interpret im selben Augenblick konkretisiert, in welchem sie ästhetisch genossen werden.»
Ich bleibe zurück und betrachte ein offenes Kunstwerk. In den Bildern von Nolde. In einer Geschichte, die noch nicht zu Ende gedacht ist. Die Jünger blicken mindestens genauso ratlos in den Himmel wie ich.
Wann hast du das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht? Etwas zum ersten Mal zu machen, erfordert einen offenen Blick. Hast du dir einen offenen Blick für das Leben bewahrt?
Ankommen
Begib dich an einen Ort, an dem Menschen ankommen. Eine Flughafenhalle, ein Bahnhof. Wie sehen die Gesichter der Menschen dort aus? Werden sie erwartet?
Ich habe schon in diversen Städten gewohnt. Rund 1000 km liegen aktuell zwischen mir und dem alten Haus an der Strasse mit den weissen Fensterrahmen und den feuchten Kellerräumen. Heimat war immer an der Ostsee, zuhause immer woanders. Aktuell ist es Zürich.
«Und noch in keinem Hafen, das wird mir langsam klar, bin ich je eingeschlafen, in dem ich wach geworden war.»
Die Zeilen von Philipp Poisel habe ich viel zu intensiv gefühlt.
Rastlosigkeit, Eskapismus, Heimatlosigkeit. Vielleicht ein Phänomen meiner Generation. Es zieht mich weiter. Da kommt noch was. Uns wurde die Welt versprochen, also warum jetzt weniger erwarten?
Und dann kommt das Leben dazwischen und die eigene Freiheit fühlt sich plötzlich gar nicht mehr so gut an. Was hält mich, wenn nichts fest steht? Mein Glaube. Mein Glaube?
Lies das Himmelsstück I von Yoko Ono. Kannst du den Himmel sehen? Wie sieht der Himmel gerade aus, dort wo du bist?
«Am Ende des Zweiten Weltkrieges sah ich aus wie ein kleiner Geist, weil es nie genug zu essen gab. Ich hatte Hunger. Besser war, sich einfach hinzulegen und in den Himmel zu schauen. So kam es, dass ich mich in den Himmel verliebte.
Seitdem war ich mein ganzes Leben lang in den Himmel verliebt. Sogar als alles um mich in die Brüche ging, war der Himmel immer für mich da. Er war die einzige Konstante in meinem Leben, die sich veränderte im Rhythmus von Licht und Blitzen. Damals sagte ich mir, ich könnte niemals meinen Glauben ans Leben verlieren, solange es den Himmel gibt.»
Mit Glauben aufbrechen, zuhause ankommen. Wenn Menschen verloren gehen, wenn das Leben dazwischenkommt, der Himmel ist immer ganz nah.
Ich kann ihn immer mitnehmen, egal wohin es mich treibt. Hamburg oder Zürich. Mal quillt sein Azurblau aus meinem Koffer, mal verstecken sich seine kleinen Wolken in meinen Jackentaschen.
Was steht ihr da und seht gen Himmel? Als gäbe es dort eine Antwort auf die ewige Suche.
Das Himmelszelt hält mich. Immer wenn ich stehe und nach oben schaue.
Erinnere dich an einen Moment in deinem Leben, an dem du aufgebrochen bist. Aufbrechen heisst auch zurücklassen. Wo bist du angekommen? Wie sah dort der Himmel aus?
Geh nun heim. Dich hat es heute hoch hinaus getrieben, du hast gesucht und gelesen, nach oben geschaut und bist angekommen. Wo auch immer du bist. Der Himmel wird da sein.
Foto von Cédric Dhaenens auf Unsplash