Seit am vergangenen Wochenende eine Panzerkolonne in Richtung Moskau rollte, beherrscht eine semi-illegale russische Söldnertruppe mit dem bombastischen Namen «Wagner» Schlagzeilen und Social-Media-Feeds. Auf Twitter rangierte der Wagner-Hashtag (#Wagner) tagelang ganz oben.
In aller Munde ist seit der jüngsten Eskalation auch ein glatzköpfiger, stiernackiger, brüllender Befehlsführer: Jewgeni Wiktorowitsch Prigoschin, der Wagner-Anführer.
Ein früherer Hotdog-Verkäufer und späterer Catering-Unternehmer für Staatsdinner als Chef einer weltweit operierenden Söldnerarmee; eine Shakespeare-Gestalt wie aus dem Buche, nur sehr viel schrecklicher bewaffnet.
Prigoschins Männer könnten modernen Militär-Shooter-Spielen entsprungen sein. Der gegenwärtige Kriegswahnsinn zeigt immer deutlicher seine Gesichter.
Serious Games
Prigoschins in innerrussische Machtkämpfe verwickelte Söldnerarmee ist zuvor nicht nur in den Syrienkrieg einbezogen gewesen, sondern sie ist seit einiger Zeit auch in Afrika aktiv. Sie helfe mit, Afrika «auszubeuten», war fast nebenbei aus Nachrichten zu erfahren.
Was heisst das? Sind heutige Söldnerheere – Wagner ist nur eine von vielen paramilitärischen Einheiten – was vor hundert Jahren Kolonialarmeen (euphemistisch: «Schutztruppen») waren, nur unter neokolonialen Vorzeichen?
In Afrika ist Wagner auch in der Zentralafrikanischen Republik, in Libyen, im Sudan und in Mali aktiv.
Wagner-Söldner unterstützen in der Regel anti-westliche Regierungen im Austausch mit Zugang zu natürlichen Ressourcen.
Academi ist kein Akademikerverein
Neben russischen Milizen sind eine ganze Reihe westlicher Söldnereinheiten weltweit im Einsatz. Das grösste US-amerikanische private Sicherheits- und Militärunternehmen heisst Academi (früher Blackwater). 2014 wurde Academi mit Triple Canopy und sechs weiteren Militärdienstleistern aufgekauft und unter Constellis Holdings zusammengefasst.
In welchem Umfang profitieren direkt oder indirekt auch europäische und Schweizer Konzerne, etwas der Rohstoffökonomie, von Aktivitäten verdeckt-staatlicher oder privater Milizen? Und was bedeutet überhaupt neokolonial?
Als ich vor zehn Jahren ein westafrikanisches Land an der einstigen Goldküste besuchte, Ghana, bekam ich eine Ahnung von massiven externen Einflussnahmen ausländischer Mächte und dem eklatanten ökonomischen Ungleichgewicht.
Im an die Hauptstadt angrenzenden Meer wurde mir eine vom Ufer aus gut sichtbare, riesige Ölbohranlage gezeigt. Dort suchten die Chinesen nach Erdöl, wurde ich informiert. Bei der Fahrt durchs Stadtzentrum kamen stolze Kulturbauten in den Blick, eine nagelneue Oper und ein grosses Museum im Architekturstil unserer Zeit, von chinesischen Investoren.
Das Recht der Stärkeren
Ähnlich im frankofonen Senegal: In Dakar verdankt sich beispielsweise das Musée des civilisations noires chinesischen Investoren.
Die seit der Kolonialzeit bestehende politische, ökonomische und kulturelle Einflusshochheit Europas in Afrika geriet in den zurückliegenden Jahren zunehmend durch Asien unter Druck.
Mit Wagner weitete Russland in den letzten Jahren ebenfalls seine Einflusszonen in Afrika, Lateinamerika und im Nahen Osten aus. Gewissermassen als flankierende Soft-Power-Intervention mehren sich in Afrika russisch-orthodoxe Kirchengründungen.
Politische und religiöse Spannungen korrelieren in für Aussenstehende oft undurchsichtiger Weise. Und Zugänge zu Rohstoffen oder Ausschlüsse spielen dabei fast immer eine entscheidende Rolle.
In Burkina Faso putschte sich erst vor wenigen Monaten ein Militäroffizier an die Macht. Ibrahim Traoré habe, hiess es, die russischen Wagner-Söldner ins Land geholt. Sie sollen als Bezahlung eine Mine im Süden des Landes erhalten haben. Burkina Faso ist eines der ärmsten und geplagtesten Länder Afrikas.
Kampf gegen den Terror?
Die offizielle Begründung für die Rekrutierung von Privatarmeen lautet häufig: Man benötige sie im «Kampf gegen den Terror». Terroristen heissen die jeweiligen politischen Gegner.
Geht mit der exponenziellen Zunahme superreicher Privatleute und Konzerne ein gesteigertes Bedürfnis nach Privatarmeen einher, ähnlich wie in der Epoche der Renaissance? Es wäre nicht verwunderlich, gilt es doch privilegierte Zugänge zu Ressourcen und angehäuften Reichtum abzusichern.
Wir leben anscheinend nicht nur in einer Zeit des Neokolonialismus, sondern auch des Neofeudalismus.
Aber ist wirklich sicher, wer sich auf private Söldnerheere stützt? Eine Zunahme instabiler Staatsgebilde ist erwartbar, wenn die Abhängigkeit von ausländischen Söldnern weiter zunimmt.
Wenn sogar eine Nation wie Russland einen relativ hilflosen Eindruck angesichts einer rebellierenden Söldnerarmee machte, wie viel bedrohlicher sind erstarkende Milizen für schwache Nationengebilde im Global South?
Weltweit gibt es eine Tendenz, reguläre Streitkräfte durch private Militär- und Sicherheitsfirmen zu ersetzen. Es ist eine immer schwerer kontrollierbare Entwicklung. Nicht von ungefähr geht jetzt ein Macchiavelli-Zitat viral.
«Die Führer der Söldnerheere sind entweder hervorragende Männer der Kriegskunst oder sie sind es nicht: wenn sie es sind, so kannst du ihnen nicht trauen, denn sie werden immer wieder nach eigener Macht streben, indem sie dich, ihren Herrn, bezwingen oder andere gegen deine Absicht unterwerfen; ist ein Heerführer aber nicht tüchtig, so richtet er dich auf die übliche Weise zugrunde.»
Sogenannte Entwicklungshilfe
In der ghanaischen Hauptstadt Accra traf ich im Stadtzentrum neben neuen Kultureinrichtungen auch auf Blechhüten, Ziegen und Schafe.
Am stadtnahen Strand streunten Schweine. Die urbane Subsistenzwirtschaft könnte idyllisch anmuten, würde nicht die Realität sozialer Not dahinterstecken.
Am luxuriösen Anwesen des Präsidenten konnte man vorbeispazieren. Allerdings musste man an mit Maschinengewehren bewaffneten Sicherheitsleuten in Militäruniform vorbei.
«Unvollständige Demokratien» werden Demokratien mit abhängigen Regierungen und Verwaltungen genannt.
«Ausländische Konzerne haben direkten Zugriff auf Rohstoffe, während die einheimische Bevölkerung in Armut gefangen bleibt», erklärte mir der Leiter eines Kulturinstituts.
Ein unmittelbar vor der Pensionierung stehender Entwicklungshelfer aus Deutschland sagte ernüchtert:
«Was sogenannte Entwicklungshilfe leistet, ist ein Tropfen auf den heissen Stein. Solange die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die ungleichen Handelsbeziehungen, die finanzielle Abhängigkeit, also die neokolonialen Strukturen bestehen, wird sich nichts zum Besseren verändern.»
Eine Negativbilanz, die er auch seinem eigenen Lebenswerk ausstellte.
Wann kommt der Afro?
Ein paar Jahre später sass ich rund siebzig Kilometer südlich von Senegals Hauptstadt Dakar in einem kleinen Dorf, in N’Gaparou, an der malerischen Petit Côte mit Mansour Ciss unter einem Mangobaum. Der in Berlin und Senegal lebende Künstler ist unter anderem mit Kunstverkäufen an reiche nigerianische Sammler zu Kapital gelangt.
In dem Dorf hat er mit der Villa Gottfried eine Künstlerresidenz zur Unterstützung junger afrikanischer Künstlerkolleg:innen errichtet. Er selbst zählte in seiner Jugend den kulturaffinen Präsidenten und Dichter Léopold Sédar Senghor zu seinen Sammlern. Zu Ciss’ Werken gehört der Afro. Darauf seht gedruckt:
«Monnaie Unique Africaine. United States Of Africa. A Prototype Currency For All Of Africa».
Der Afro ist eine Fake-Währung. Senegals offizielle Währung, der CFA-Franc, wird bis heute in Frankreich gedruckt. Ein beredtes Symbol für bestehende Abhängigkeiten einer «autonomen Republik» nach formal erlangter Unabhängigkeit.
Ein starkes Afrika, geschweige denn eine einheitliche Währung, sei von kolonialen Mächten stetes hintertrieben worden. Heute mischen sich die Karten neu, ohne dass sich etwas Grundlegendes zu ändern scheint. Mir haben sich die Augen junger afrikanischer Menschen eingeprägt, die den Kontinent aufgegeben haben und die nur eines wollen: fort!
Die Open-Source-Bewegung «All Eyes on Wagner» aus Frankreich beobachtet die globalen Aktivitäten der paramilitärischen Wagner-Einheiten und damit zusammenhängende Menschenrechtsverletzungen, wirtschaftliche Ausbeutung und ökologischen Raubbau.
Zu kolonialen Verflechtungen von Missionsgesellschaften erschien kürzlich bei RefLab der Blogbeitrag «Ist Mission dekolonisierbar?»
Um Verwicklungen mit Sklavenhaltung und -haltung auch von Schweizer Unternehmen und Privatpersonen im Verlauf der Geschichte dreht sich dieser Blogbeitrag: «Zwiespältiges Erbe»
In der Schweiz war das Söldnerwesen oder die «Reisläuferei» jahrhundertelang ein ertragreiches Geschäft. Zeitweise lebte jeder zehnte männliche Bürger davon. 1859 wurde es verboten, der Dienst in einer fremden Armee blieb aber möglich. 2010 wurde bekannt, dass die britische Firma Aegis Defence Services ihren Hauptsitz von London nach Basel verlegt hat. Aegis Defence Services ist eine der grössten Söldnerfirmen der Welt und war sowohl im Irak als auch in Afghanistan massgeblich an Kriegshandlungen beteiligt. In der Folge wurde ein Gesetz verabschiedet. Es verbietet die Ansiedlung von Söldnerfirmen, die sich an Kriegshandlungen beteiligen.
Foto von Filip Andrejevic auf Unsplash
2 Gedanken zu „All Eyes on Wagner“
Wohltätige und gemeinnützige Organisationen arbeiten häufig mit privaten Militärfirmen zusammen: Ohne deren Sicherheitsdienste fahren in viele (afrikanische) Staaten Rotkreuzorganisaionen etc. nicht mehr in abgelegene/unsichere Gebiete. Es ist kaum möglich, solche Militärfirmen gründlich zu durchleuchten, deren Personal auf Gewaltverbrechen zu überprüfen. Da frisst mancher Gutmensch viel Kreide, um seine gute Tat zu vollbringen.
Lieber Herr Pfaff, danke für den Hinweis auf dieses Dilemma!