«Die christl. Rel. ist anthropozentrisch und beachtet Tiere wenig.»
Dieser lapidare Satz aus der grossen Lexikonreihe RGG (Religion in Geschichte und Gegenwart) artikuliert ein Unbehagen, das ich schon länger und zunehmend deutlich empfinde: Dass unsere christliche Tradition zu wenig über Anders-als-menschlichen Geschöpfen zu sagen weiss. Wenn Tiere im Neuen Testament vorkommen, dann meist symbolisch.
Im TRE (Theologische Realenzyklopädie), dem grössten deutschsprachigen Buchprojekt in Theologie und Religionswissenschaft heisst es, ebenfalls im ersten Satz:
«In der Dogmatik des 20. Jh. führt das Tier ein Schattendasein. (…) Das Stichwort ‹Tier› sucht man aber auch in neueren Entwürfen zur Schöpfungslehre meistens vergeblich.»
Dies sei umso erstaunlicher, «als unter dem Einfluss der Umweltkrise das Interesse an der Schöpfungslehre und einer Schöpfungsethik in den vergangenen Jahrzehnten merklich zugenommen hat».
Blinder Fleck
Verweist man auf andere Traditionen, die ein reicheres und komplexeres Verhältnis zu Tieren entwickelt haben, der Buddhismus etwa oder der Hinduismus (vom ethisch gegenüber Tieren äussert sensiblen Jainismus gar nicht zu reden), kann es passieren, dass man zu hören bekommt:
«Aber wir haben das doch auch bei uns.»
Dann wird auf das Eselfohlen verwiesen, auf dem Jesus in Jerusalem einritt, oder die Massenspeisung mit Fischen am See Genezareth. Aber ein Erwachsener auf einem Eselfohlen und massenweises Fischtöten sind eher keine überzeugenden Beispiele für ein uns heute inspirierendes Verhältnis zu nicht menschlichen Tieren.
Anders auch als bei der Sexualmoral oder der Leibfeindlichkeit kann man die Tiervergessenheit auch nicht einfach auf «fremde» Einflüsse abwälzen, auf die Gnosis oder griechisch-platonische Einflüsse (Stichwort: «Hellenisierung des Christentums»).
Was tun?
Vielleicht sollten wir uns, erstens, daran gewöhnen, dass Überlieferungen, auch die christliche, nicht alle Möglichkeiten abdecken. Das Christentum hat, sieht man von Ausnahmen ab (Heilige Franz von Assisi) wenig zu einem komplexen Verhältnis zu Tieren beigetragen.
Zurzeit entdecken Künstler:innen und Anthropolog:innen in neuer Weise indigene Philosophien. Diese widmen sich in für uns überraschender und inspirierender Weise Anders-als-menschlichen-Wesen und Möglichkeiten sozialer Kommunikation über die eigene Speziesgrenze hinaus.
Vor dem Hintergrund der Bewältigung von Folgen des Raubbaus und dem drohenden Verlust der biologischen Vielfalt wird heute von UN-Mitgliedsstaaten das Wissen indigener Völker in internationale wissenschaftliche Bewertungen einbezogen.
Indigenes Wissen, etwa über Bienen, hat Eingang in offizielle Papiere der UN gefunden.
Warum sollten wir uns nicht von anderen Traditionen inspirieren lassen, warum sollten wir uns nicht auch lernend gegenüber anderen Überlieferungen verhalten, die der christlichen hierin offensichtlich voraus sind?
Versuche, offensichtliche Lücken durch Anleihen bei anderen Traditionen und Religionen zu schliessen, laufen allerdings Gefahr, reflexhaft als Synkretismus abgetan zu werden.
Dieser Einwand aber droht Traditionen identitär zu verengen. Wir würden jemanden als xenophob und engstirnig betrachten, der oder die nur die kulinarische Tradition der eigenen Heimat anerkennen wollte.
Ausweitung des Liebesgebots
Der Gefahr, sich vorschnell und selbstzufrieden mit einem «Hatten wir schon immer» zu begnügen, entgeht, wer neugierig auf andere Weltzugänge ist. Und bereit für interreligiöse, interspirituelle Begegnungen und – warum nicht – interspecies dialogue.
Warum sich nicht unvoreingenommen(er) und neugierig(er) mit anderen Traditionen auseinandersetzen, die ihrerseits ebenfalls beschränkt und geronnene Formen sind?
Pionierarbeit in der theologischen Neubewertung der Tierfrage leisten u.a. Gregor Taxacher, Simone Horstmann oder Rainer Hagencord. Letzterer am innovativen Leerstuhl für theologische Zoologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster.
Gegen die Gefahr der Willkür gibt es ein Korrektiv:
Stehen solche Inspirationen im Einklang mit den Grundbotschaften der eigenen Überlieferung?
Wenn das gilt – und warum sollte das christliche Liebesgebot strikt auf menschliche Nächste beschränkt bleiben? – dann steht, so scheint mir, einem wahrhaften, und das heisst auch: von (kolonialen) Superioritätsgefühlen befreiten, interreligiösen Dialog von christlicher Seite wenig entgegen.
Blog-Serie «Wildwechsel» mit Tierbegegnungen
In Kürze startet im RefLab-Blog eine Serie mit dem Titel «Wildwechsel» zu Tiererlebnissen. Wir erzählen von verwandelnden Begegnungen mit Tieren, berührender oder auch beängstigender Nähe und von Unverfügbarkeit. Beiträge widmen sich wild lebenden Affen im chinesischen Huangshan-Gebirge, dem Liebesblick des Jaguars oder der überraschenden Stille der Hirsche.
«Biodiversität – Heilige Vielfalt!» lautet der Slogan für die SchöpfungsZeit 2024, die vom 1. September bis zum 4. Oktober läuft. Regionale und ökumenische Auftaktveranstaltungen finden in der Schweiz unter anderem in Bern, Basel, Fribourg, Rheinfelden, Gossau und Zürich statt. «Es kreucht und fleucht» ist der regionale Schöpfungstag am 7. September überschrieben.
Abbildung: Echt oder nur ein Symbol? Ein gestrandeter Pottwal am Zürichsee im August 2024 – eine Aktion des belgischen Künstlerkollektivs Captain Boomer im Rahmen des diesjährigen Zürcher Theater Spektakel; Foto: Johanna Di Blasi
4 Gedanken zu „Aber das haben wir doch auch bei uns!“
Bin nur gerade über den Leerstuhl gestolpert.
Danke für den spannenden Artikel!
… Dass die Glaubenstraditionen, die auf Jesus zurückgeht, Gott mit solcher Betonung „Vater“ nennt, unterscheidet sie einerseits von anderen Traditionen, schmiedet aber zugleich ein kräftiges Verbindungsglied zu ihnen. Weil Christen Gott „Vater“ nennen, dürfen sie alle anderen Menschen, die ja ebenso Gottes Kinder sind, Brüder und Schwestern nennen – ja, sie werden nicht nur Menschen, sondern alle Geschöpfe als Mitglieder in Gottes Haushalt anerkennen und entsprechend lieben…
aus „Das Vaterunser“ von David Steindl-Rast.
Eigentlich ganz einfach, das Herz versteht diese Botschaft, nur in der Realität kommen Zweifel und Unsicherheit, schade.
ChristInnen dürf(t)en Gott “Vater” nennen erst, wenn sie zur Familie Gottes gehören. Eben nicht “die ja ebenso Gottes Kinder sind”. Im Alten Testament hat dieser Gott sein Volk Israel von den anderen Völkern abgesondert: 10 Gebote, Beschneidung der Knaben, keine Ehen mit HeidInnen, Ausrottung anderer Völker. Im Neuen Testament hat der Mensch gewordene Gott Jesus Christus zuerst die HebräerInnen zum Angebot “Gnade” eingeladen, dann auch HeidInnen. Sprachen Paulus und Petrus zu den “Kindern Gottes”, waren dies nur diejenigen, die Jesus Christus nachfolgten. Die Gnade Gottes gilt zwar allen Menschen, doch sie entfaltet ihre Wirkung nur für diejenigen, die sie auch annehmen. Die letzten Sätze des Matthäus-Evangelium sind der Auftrag des Herrn Jesus an seine NachfolgerInnen, hinzugehen um alle Völker zu Jüngern zu machen. Das wäre ein Widerspruch.
liebes und geschätztes reflab team
was für ein wunderschöner beitrag von den tieren der letzte von den Rehen…
ist eines meiner lieblingstiere in der freien natur – ich beobachte viele und ja
ist auch traurig, dass mit dem tod von deiner frau lieber andi,
letzte woche hatte leider auch einen unfall mit einem reh in der nacht,
ich vergesse nie die wunderschönen, kugelrunden braunen so liebvollen augen dieses reh, einfach still gab es sich hin dem schicksal, ich wollte soo helfen, schickte mehrere stossgebete zum papa im himmel, jesus, mehrmals versuchte es aufzustehen, und sackte wieder zusammen und blieb liegen, lange dauerte der kampf, die polizei kam und dann auch der wildhüter, ich flehte ihn an bitte noch die tierambulanz, es war zu spät der wildhüter erlöste es, ich weinte nur noch und es zerriss mir meine seele…
ich weiss jetzt ist das reh in den wiesen wo jesus das neue paradise versprochen hat… mit meinen auch verstorbenen hundis springt jetzt das reh wieder fröhlich mit seinen so wunderschönen und so liebevollen braunen augen…
danke für diesen wunderschönen worte von den rehen…
es hat mich sehr getröstet…
dankeschön
härzliche grüessli
christoph