Mir sind schon öfter wilde Tiere gefährlich nahegekommen: nicht in dunklen Waldstücken oder windigen Steppen, sondern im Traum. Meistens sind es Wölfe. Ich weiss im Traum, dass es Wölfe sind, obwohl ich nur selten und ausschliesslich in Zoos echte Wölfe erlebt habe.
Die Tiere schleichen in meinen Träumen umher, als wäre das ihr angestammtes Revier.
Ich weiss nicht, woher sie kommen. Sie sind vertraute Gäste meiner Träume, seit ich vor ein paar Jahren in einer längeren Krankheitsphase ihre Bekanntschaft machte.
Wölfe überschreiten Schwellen
Damals übertraten Wolfsrudel auf einmal Schwellen, sie drangen in meine Sicherheitszone ein. Die Traumtiere lösten keine Panik bei mir aus, aber ein tiefes Unbehagen; wie wenn gleich etwas eintreten würde, das nichts so belässt wie es ist.
Wenige Zeit davor hatte ich noch mit dem Wolfsthema kokettiert.
Ich hatte sogar eine Weile die Nahaufnahme eines Husky mit strahlenden blauen Augen, ein naher Verwandter des Wolfes, als Profilbild bei Facebook. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, irgendwo zu übernachten, in einem Bed & Breakfast, wo man nachts, freilich aus sicherer Distanz und durch Wände geschützt, nächtliches Wolfsgeheul hören kann.
Als sich aber Wölfe in den Träumen in den Vordergrund schoben, war es mit dem spielerischen Umgang und der Koketterie vorbei.
Die Wölfe kamen immer näher und schauten mich mit durchringenden Blicken an.
In ihren Augen und ihrer Haltung lag ein tiefer Ernst und zugleich so etwas wie mangelnde Distanz. Ich fühlte mich bedrängt.
Tiefer Ernst und mangelnde Distanz
Ich versuchte im Traum, mich in Häusern zu verbergen. Die Gebäude aber waren allesamt unzureichend gesichert. Man konnte nicht einmal die Türen abschliessen.
Die Wölfe standen still und abwartend draussen und fixierten mich.
Ich verharrte ebenfalls regungslos, in der Hoffnung, sie nicht zu reizen. Ich hatte das Gefühl, die rätselhaften Traumwesen waren gekommen, um mich zu holen.
Einmal setzte ein Wolf zum Sprung in meine Richtung an … und ich erwachte aus dem Traum.
So oder so ähnlich träumen Menschen wohl seit Jahrtausenden. Nicht von ungefähr bevölkern wilde Wölfe Märchen und Mythen. Sie zählen zu den archetypischen Bildern.
In manchen indigenen Kulturen werden Wölfe in Träumen als Schutzgeister angesehen.
In vielen Mythen findet sich die Doppelnatur der Wölfe von gefährlich und beschützend. In Traumbüchern werden Wölfe oder Wolfsrudel als Ausdruck unbewusster Aggressionen und Triebe gedeutet oder als mögliche Hinweise auf die Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod.
Berühmt ist die psychanalytische Fallgeschichte von Sergei Pankejeff, dem «Wolfsmann» aus Sigmund Freuds Behandlungszimmer. Der russische Landadelige träumte als Kind, dass ein Wolfsrudel in einem Baum vor seinem Schlafzimmer sitzt. Das Gefühl, dass ihn die Tiere fressen wollen, liess ihn erschreckt aufwachen.
Für Freud war der Traum Schlüssel zu einer kindlichen Neurose.
In der Bibel gibt es zwar ebenfalls Tiere, die in Träumen auftauchen, aber eher symbolisch; kaum als bedeutsame Gegenüber, mit denen ein tiefer, geheimnisvoller Austausch bestünde. Für das Fehlen dieser Dimension gibt es kulturgeschichtliche Erklärungen (z.B. Entstehung der Schriften zu einer Zeit, in der sich Menschen von der Naturabhängigkeit emanzipierten), und doch bleibt es eine schmerzliche Auslassung. [1] Ich muss mir andere Quellen suchen, um einordnen zu können, was ich erlebe.
Was Tiere in Träumen sagen
Bei der französischen Anthropologin Nastassja Martin («An das Wild glauben») habe ich gelesen, was eine Angehörige des indigenen Volkes der Ewenen oder Even aus dem Norden Russlands über Pferde in Träumen sagte: «Sie reden nicht mit Wörtern, weil du sie nicht verstehen würdest.» Ihre Art zu sprechen ist nonverbal: «Wenn du sie gesehen hast, dann reden sie mit dir».
Auch die Wölfe meiner Träume sprechen eine stumme, aber umso eindringlichere Sprache.
Ich habe die Wölfe nicht gerufen, sie waren einfach da: Bilder aus dem Fundus meiner Seele.
Seit längerer Zeit sind Wölfe aus meinen Träumen wieder verschwunden. Es ist mir ehrlich gesagt lieber so. Gleichzeitig empfinde ich es als merkwürdig beruhigend, sie an der Schwelle zu wissen: als Wächter am Tor zum Unbewussten, Vorboten und Begleiter einschneidender Veränderungen.
[1] Ansätze einer «Theologie der Tiere» versuchen diese Überlieferungslücke zu überbrücken; siehe z.B. den Sammelband «Alles, was atmet. Eine Theologie der Tiere», hg. von S. Horstmann, T. Ruster, G. Taxacher.
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Photo by Steve: https://www.pexels.com/photo/brown-wolf-682375/