Angst habe ich selten. Was ich hingegen oft habe, ist ein Ängstli: ein Gedanke, der sich plötzlich in meine Hirnwindungen quetscht und die Notbremse zieht. Mein Gehirn hat gelernt, diesem Ängstli beschwichtigend auf die Schulter zu klopfen:
Doch, doch. Ich habe die Sicherung rausgenommen, bevor ich die Lampe ausgepackt habe. Oder nicht? Egal.
Klar, ein Bremskabel ist gerissen. Aber ich habe ja noch ein zweites. Das wird schon reichen.
Vorsorgeuntersuchung? Das mache ich dann irgendwann, wenn ich Zeit habe.
Es ging immer gut. Bisher
Wenn am Horizont eine Gefahr auftaucht, findet mein Gehirn immer einen Weg, mich zu beruhigen. Bisher behielt es auch Recht. Es ging immer gut. Ausser vielleicht damals, als es mir sagte: Die anderen sind auch von der Klippe gesprungen – was soll schon passieren? Der Aufprall auf der Wasseroberfläche zertrümmerte meinen Rückenwirbel.
Oder als es mir gut zuredete: Natürlich kannst du einen grossen Transporter fahren, obwohl du nur alle zwei Jahre einmal hinter dem Steuer sitzt. Schon nach den ersten Metern zertrümmerte ich einen Seitenspiegel.
Oder als ich meinen Vortrag kaum vorbereitete – schliesslich hast du schon so oft vor Leuten gesprochen! – und die verwirrten Blicke aus dem Publikum mein Selbstvertrauen zertrümmerten.
Mein Gehirn ist sehr gut darin, mich zu beschützen. Nicht unbedingt vor Unfällen – aber vor Angst.
Ehrlich gesagt bin ich meistens froh darüber. Denn wenn sich ein Ängstli in Angst verwandelt, wird es unangenehm. Angst verhält sich wie eine verwirrte Chirurgin, die an meinen Organen herum experimentiert: Sie betäubt meine Hirnwindungen, so dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, während sie meinem Bauch alle zukünftig erwartbaren Schmerzen zu spüren gibt.
Traurigkeit ist ok
Zu meinem Puls könnte man Hardstyle-Techno tanzen, obwohl sich mein Herz anfühlt, als wäre es auf Ketamin. Wenn ich Angst habe, werden meine Augen blind. Sie sehen nicht Dunkelheit. Sie sehen Nichts.
Von den sogenannten «negativen Gefühlen» mag ich die Angst am wenigsten. Traurigkeit ist ok. An einem nebligen Regentag das süsse Ziehen im Herzen spüren. Die leidende Poetin. Mit diesem Selbstbild kann ich leben.
Wut mag ich manchmal auch: Mikroexplosionen setzen Energie frei, mit denen ich Hindernisse aus dem Weg räumen kann. Die wütende Aktivistin – auch das funktioniert.
Aber Angst, die mag ich nie. Ängstlich sind Omas bei Glatteis oder Kinder, die im Supermarkt verlorengehen.
Menschen, die mitten im Leben stehen, haben keine Angst.
Ok, vielleicht nicht keine Angst. Aber selten. Glaube ich. Vielleicht versteckt sie sich auch einfach sehr gut – das würde ja zu ihr passen. Sie traut sich nur dann ans Licht zu kommen, wenn ich mir selbst liebevoll und ehrlich in die Augen schaue. Dann tritt sie zuerst vorsichtig hinter den kleinen Entscheidungen hervor: Sie stand hinter meiner Outfit-Wahl, dem Löschen meines Insta-Posts und dem aufgesetzten Lächeln, um mich vor Ablehnung zu schützen.
Wieso manipulierst du mich?
Wenn ich sie dann nicht verurteile, sondern weiter ermutige, hervorzukommen, sehe ich sie plötzlich an jeder Weggabelung, die ich in meinem Leben schon durchwandert habe. Sie winkt hinter meinem Studiumsentscheid, meinem Jobwechsel und meinen ersten Schritten als Texterin hervor, als sie versuchte, mich vor dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit zu bewahren.
Wenn sie dann so schüchtern vor mir steht, habe ich fast Mitleid mit ihr. Deshalb versuche ich, nicht allzu harsch zu klingen:
Liebe Angst, ich weiss, dass du es gut meinst. Aber musst du mich so manipulieren?
Du machst ein Casting für rationale Abwägungen, Ratschläge von Vertrauenspersonen und bereits gesammelte Erfahrungen, die du fein säuberlich auswählst und dann auf die Bühne meiner Wahrnehmung schickst. Dort präsentieren sie ein leidenschaftliches Theater mit Gastauftritten von so ziemlich jeder Emotion – ausser der Angst. Du selbst stehst nicht auf der Bühne. Du führst Regie und weisst genau, wie du die Storyline gestalten musst, damit ich am Ende die richtige Entscheidung treffe: Deine Entscheidung.
Angst vor der Angst
Jetzt, als ich die Angst auf die Bühne geholt habe, ist sie nicht mehr schüchtern. Die Worte fliessen aus ihr heraus, als hätten sie sich über Jahre angestaut: Meinst du, es gefällt mir, dich zu manipulieren? Ich würde dir ja gerne ehrlich und direkt sagen, von welchen Menschen und Gedanken du Abstand halten solltest. Aber du hörst mir ja nie zu! Sobald du spürst, dass ich um die Ecke komme, rennst du davon und dröhnst dich zu mit Comfort-Food und Netflix. Wenn du mir immer ausweichst, muss ich halt andere Gefühle und Gedanken vorschicken, um dich zu überzeugen.
Ich will dich nicht manipulieren. Du musst mir auch nicht immer Recht geben. Ich möchte nur, dass du mir zuhörst.
Während sie spricht, wird sie immer kleiner. Ich spüre, dass sie Recht hat: Je mehr ich dem Angstgefühl ausweiche, desto stärker wird sie zur grauen Eminenz, die im Hintergrund Regie führt. Die Lösung dafür klingt kontraintuitiv: Ich müsste die Angst zulassen, um ihr die Macht zu nehmen. Warum fällt mir das so schwer?
Weil ich befürchte, dass die Angst nicht mehr aufhört, wenn ich ihr erst einmal die Tür geöffnet habe. Dass sie mich mitreisst wie ein Fluss bei Hochwasser. Dass ich in ein tiefes Loch hinabgezogen werde, wo selbst fröhliche Gedanken ihre Farbe verlieren und ich deshalb den Weg nach Draussen nie wieder finden werde.
Du bist nicht allein!
Auch wenn die Bibel teilweise ein seltsames Verhältnis zur Angst hat, enthält sie einen Satz, der meiner Angst vor der Angst etwas entgegenhält:
«Wahre Liebe vertreibt jede Angst.»[1]
Das sollte nicht missverstanden werden als ein Versuch, die Angst zum Schweigen zu bringen. Diese bleibt weiterhin berechtigt und soll gehört werden. Liebe schützte mich nicht vor einem Rückenwirbelbruch. Aber als ich mit schmerzverzerrtem Gesicht und angstverzerrtem Herzen im kroatischen Meer lag, flüsterte mir die göttliche Liebe zu: Egal, was kommt: Du bist nicht allein.
Auch wenn sich deine schlimmste Angst bestätigt, und du jetzt im Rollstuhl landest, kommt es gut. Denn es gibt Menschen, die dich lieben. Und schlussendlich ist Liebe alles, was zählt – das sagte sowohl John Lennon als auch Jesus. Mindestens einem von beiden kannst du glauben.
[1] 1. Johannes 4,18
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3 Gedanken zu „Liebe Angst, ich weiss, du meinst es gut!“
Angst – Wissenschaft.
Ein soziales Problem, eine soziale Lösung.
https://agv-bs.de/was-ist-das-gegenteil-von-angst-und-warum-ist-das-fuer-mich-unternehmerisch-relevant/
Danke Anna, für diesen wunderbaren Text über Angst, auch Angst vor der Angst. Sie zu fühlen, ist bedeutend um dann BEGLEITET in die Einsamkeit, Trennung und anderen von Scham getränkten Momente zu gehen, um sie wieder in der Liebe und Verbindung anzunehmen. Das verändert die Be-Ziehung zur/von Angst. Das Loch 🕳️ von dem du erzählt hast, steht heute neben mir. Es lacht mich manchmal an und manchmal flirte ich noch, wenn Netflix oder der Hunger grösser als nötig ist. Dann darf ich eine bewusste Entscheidung fällen. Das war früher nicht möglich, weil der Sog, den du beschreibst zu stark war. Deshalb ist eine tief, sichere und vertrauensvolle Begleitung so wichtig und ein empathisches Arbeitsumfeld. Denn Empathie (einfühlsam) löst Scham als Quelle von wuchernden Dramen auf. Doch wer dem Wucher mit Liebe oder eben Einfühlsamkeit die Füsse waschen kann, darf vom ungesunden Ekel und Scham ebenso geheilt sein, wie die- oder derjenige, der/die Leichtigkeit in der Schwere sucht. Ist letzteres nicht da, spiegle ich (noch) die Scham ins ausse und hole den Drachen zu mir, statt das ich ihn lerne zu bändigen. Zu diesem Narrativ gibt es viele Filme und Literatur. Diese Prozesse heissen Heldenreise, Versöhnung, Therapie, Vergebung, etc. Die Mischung und das immer wieder dran bleiben macht die Magie und Mystik dieser Prozesse aus, Sie können mental nicht durchdrungen werden. Vertrauen ist ein Geschenk, dass auf Liebe aufbaut. Beides braucht das Herzen.
Nochmals danke und eine wunderbare Zeit.
Starchi Wort! Danke liebi Anna. 🎊