Wer es schon mal erlebt hat, kennt den riesigen Scroll-Effekt, der sich gen Norden einstellt – besonders bei schönem Wetter. Die Erde rutscht nach unten, während meine Augen mit Himmelblau volllaufen. Was auf der Hinfahrt beginnt, kommt an der See zum vorläufigen Höhepunkt: Unendlich scheint der Horizont, weil der Himmel so grenzenlos ausgespannt ist.
«Minor Earth – Major Sky»
In mir steigt eine Melodie der norwegischen Popgruppe «a-ha» auf: «Minor Earth – Major Sky!» Einerseits denke ich: «Wie klein wir doch sind!» Andererseits mindert der ausgewölbte Himmel meine irdische Existenz überhaupt nicht ab.
Seine Erhabenheit wirkt auf mich erhebend, seine Ausgedehntheit macht mich weit.
Eine naturtherapeutische Erfahrung, die am Nordseestrand den allermeisten Menschen, die man danach fragt, besonders leicht widerfährt. Das kommt wahrscheinlich daher, dass sich der Himmel am Meer nicht nur von oben, sondern von allen Seiten breitmacht.
Die Himmelsrichtung beginnt bei den Füssen
Unser Sinn für oben und unten entsteht dadurch, dass wir mit zwei Füssen auf die Welt gestellt sind. Davon habe ich in Me(er)ditation 1: Sandläufig geschwärmt. Barfuss am Strand erleben wir, wie aus «bodenständig» ein berauschendes «sandständig» wird. Doch die Weltbeziehung intensiviert sich hier nicht nur nach unten.
Aufgerichtet in der Welt zu stehen bedeutet, ausgerichtet zu sein, und zwar «Richtung Himmelan» (Heinrich Jacobi).
Aber wer will schon die ganze Zeit stehen?
«Weiß auf Blau die Himmelsschrift» (Rose Ausländer)
Noch himmlischer wird es, wenn ich am Strand liege. Vielleicht ein wenig dösig und verträumt. Beste Voraussetzungen für die Wolken, mich schwerelos auf ihre weite Reise mitzunehmen.
Wir liegen nebeneinander und beginnen, die Formationen zu deuten. Die Kinder – das müssen sie von ihrer Mutter haben – öffnen das Schloss meiner Imagination, so dass auch ich ihre luftigen Schlösser erblicke. «Na klar hängt da ein Hase, und drüben zieht tatsächlich ein Schiff vorbei … wie konnte ich nur so phantasielos sein!»
Ein paar Minuten später ist alles verflogen und sieht schon wieder anders aus.
«Wo treibt mein Leben hin, unser aller Leben, in diesen wirren Zeiten?» Zwar können die Wolken es mir nicht sagen, aber sie nehmen mich mit, weit übers Meer hinweg zu träumen, altbekannte Gedanken mal ab- und neue heranziehen zu lassen.
Am besten gemeinsam mit geisterfüllten Menschen, bis der blaue Moment kommt, indem sie mir helfen, gute Zukunft zu sehen. Oder mindestens gläubig das zu ahnen, was mir in meiner ach so intelligenten Skepsis und Bedenkenträgerei verschlossen bleibt.
Himmelsverdoppelung
Es gelingt mir kaum, Himmel und Meer scharf voneinander zu trennen. Besonders am weiten Horizont fliessen sie ineinander über. Sie konkurrenzieren sich nicht, sie machen einander schön. Etwa wenn die Farben und das Licht von oben die See blau bis türkis leuchten oder silber glitzern lassen. Die Schaumkronen sind dann so weiss wie die Wolken. Eine Art Himmelsverdoppelung, die nur zu toppen ist, wenn der Sand sich am Spiel beteiligt.
Ich weiss nicht wie, aber manchmal glätten die Wellen und Gezeiten den Strand zu einer perfekten Fläche ohne jegliche Unebenheit. Ich beobachte, wie eine Welle sich darauf räkelt und langsam ausrollt. Statt sich zurückzuziehen, bleibt das Wasser und überzieht den Sand wie ein hauchdünner Film. Vor mir liegt ein riesiger Himmelsspiegel. Ich betrete ihn, schaue runter, schaue hoch, schaue mich selbst. Doppelter Himmel – von oben und von unten, und ich mittendrin.
Sieht ganz so aus, als müsse man manchmal auf die Erde schauen, um den Himmel zu sehen … und umgekehrt.
Gilt das nicht auch für den religiösen Himmel? Für jenes sehnsuchtsgeladene Symbol einer Gottesnähe, in der alle lebenshemmenden Mächte umspielt und überspielt sind?
Ich sehe nicht, warum der Himmel des Glaubens in Konkurrenz zum irdischen Leben stehen sollte? Wer sagt denn, dass meine Treue zur Erde mit der Absage an die göttliche Wirklichkeit einherzugehen hat? Himmel und Weltall der modernen Naturwissenschaften mögen den als Raum gedachten mythischen Himmel faszinierend auf den Erdboden der Tatsachen holen. Aber das beflügelt eher noch dazu, mich selbst zu entdecken zwischen der göttlichen Fülle «oben» und dem prallen Leben «unten». Und dabei das «wie im Himmel, so auf Erden» wenigstens ein wenig bei Jesus abzuschauen, ohne ihn in falscher Weise anzuhimmeln.
Die Poesie hat hier schon immer ein wenig mehr gewagt als die neuzeitliche Theologie:
«Aus dem Himmel eine Erde machen. Aus der Erde einen Himmel. Wo jeder aus seiner Lichtkraft einen Stern ziehen kann.» Rose Ausländer
Die blaue Stunde
Seit dem späten Nachmittag hatte sich der Strand geleert, aber nun kehren etliche noch einmal zurück. Meine Familie und ich auch, denn es kündigt sich ein prächtiger Sonnenuntergang an. Der Sand an den Füssen ist angenehm kühl, die Luft so ruhig und frisch. Der fröhliche Lärm des Tages hat sich zu einer fast andächtigen Ruhe gewandelt. Was wohl in den Herzen und Köpfen der Menschen vor sich geht?
Es sieht aus, als würde die Sonne ins Meer tropfen. Einfach nur schön … wir verweilen noch ein wenig. Ein paar Minuten später schaue ich mich nach allen Seiten um, und ein wenig selbstvergessen kommt es aus mir raus:
«Ich glaube, ich atme blaue Luft.»
Kurz bevor das Blau des Tages den Blick freigibt auf das Funkeln der Sternennacht, flutet es noch einmal die Welt mit dem unendlichen Spektrum seiner Farben.
Jetzt bin ich endgültig umhimmelt. Wie gut mir das tut, so friedlich eingetaucht zu sein in etwas, das ich als zarte und doch feste Hoffnung für uns Menschen empfinde! Allen klimatischen, pandemischen oder kriegerischen Gründen für Weltendzeitstimmung zum Trotz:
Jetzt schlägt mir die Stunde, aber sie ist blau, und ich sauge sie auf. Weil zumindest ich derzeit nicht durch eine Überdosis Zuversicht gefährdet bin.
Wild ins Blaue hinein hoffen, anderen gar das Blaue vom Himmel verklickern, das mag ich nicht. Aber mich mit so vielen wie möglich locken lassen vom utopischen Blau des Himmels, dazu soll man mich beglückwünschen:
blauer himmel
«glücklich
die ihr betrunken sein könnt
vom blau des himmels
möge der rauschtrank
nie mangeln
und süffig
ein leuchtvorrat
auch unter finstergewölk
aus schuh und angel
euch heben
trinkt blau
trinkt nicht kummer!»
Kurt Marti
Illustration: Rodja Galli
3 Gedanken zu „Me(er)ditation 2: Umhimmelt“
Na das nenne ich mal eine ansteckende Form der Selbstbegeisterung! Vielen Dank dafür, die Linien hier so weiter auszuziehen. Möge es gelingen, liebevoll, charmant, zuvorkommend.
So eine wunderbar ansteckende Sprache! So schöne Motive! So schön beobachtet!
Danke für diese ermutigende Rückmeldung. Viele Formulierungen flossen bereits, während ich die Beobachtungen und Erfahrungen machte. Andere brauchten deutlich mehr Mühe. Schön zu erfahren, dass es sich lohnt.